Trotz Schuld und Scham: Staatsanwalt K. will auch im neuen Deutschland Kläger sein

„Ich war zwar nur einfacher Staatsanwalt.../ Ein Staatsanwalt, der unter dem Regime der Staatssicherheit auch „Republikflüchtige“ angeklagt hat, will in der neuen Zeit „helfen, daß jeder sein Recht bekommt“/ Er studiert das Bürgerliche Gesetzbuch und wehrt sich gegen seine Überprüfung  ■ Aus Halle Anette Rogalla

„Ich war zwar nur einfacher Staatsanwalt, aber ich war eine Stütze des autoritären DDR-Systems“, sagt Staatsanwalt Rudi Kampa. Sein berufliches Selbstverständnis nach der Wende: Er will ein „unabhängiger und engagierter Partner“ sein, „helfen“. Was er sich darunter vorstellt? „Na ja, daß jeder individuell sein Recht bekommt.“ Der Staatsanwalt wirkt verlegen. Anklagen und Strafmaße, die er in der Vergangenheit beantragt hat, kommen ihm in den Sinn. „Nicht die Zivilsachen, aber ich denke da an 213.“ Republikflucht.

Hallenser, die an der Grenze geschnappt wurden, brachte unter anderem Rudi Kampa zur Anklage. Nach dem Gesetz konnte er Geld-, Bewährungs- oder Haftstrafe beantragen. Ein Jahr bei „leichteren“, bis zu acht Jahren bei „schweren“ Fällen. Dunkle Jeans, Tarnkleidung galten strafverschärfend, ebenso die Kombizange, sie wurde zur „Waffe“.

Schuld und Scham stehen Staatsanwalt Kampa im Gesicht. Er wollte nicht wahrhaben, daß es Menschen in der sozialistischen Republik gab, die aus vielerlei Gründen nicht mehr in der DDR leben konnten. Noch bis Mitte der 80er Jahre dachte Kampa, sie würden lediglich den Verlockungen des kapitalistischen Westens erliegen. „Daß sie unsere sozialistische Gesellschaft als Repressionsapparat empfunden haben, kam mir nie in den Sinn.“ Er hatte sich in seinem Staat eingerichtet, glaubte daran, daß die „sozialistische Idee“ vom neuen, friedlichen, aufs Gemeinwohl bedachten Menschen fortschreitet. „Getreu der marxistischen Lehre, daß im Laufe der Zeit jeder die Grundformen akzeptiert, sie freiwillig einhält, und wir uns als Justiz überflüssig machen.“

Wie die Stasi über die Justiz regierte

Zwischen 14 Monaten und zwei Jahren habe er in seinen Anträgen gefordert, erinnert er sich. Aber unabhängig war kein Staatsanwalt in der Bemessung seiner Strafmaße. Jeden Freitag nachmittag fanden sich alle Staatsanwälte im Sitzungszimmer des Vorgesetzten zur kollektiven Beratung der Fälle der kommenden Woche ein. Dem kurzen Sachverhaltsvortrag folgte eine Einschätzung der Strafe. Sofern die Stasi als Ermittler aufgetreten war — und dazu gehörten alle Anklagen wegen „Republikflucht“ — lagen genau formulierte Strafantäge den Akten bei. Obwohl er rechtlich die Möglichkeit gehabt hätte, wagte Kampa sich keine von der Stasi-Empfehlung abweichende Meinung. Dann hätte sein Ruf im Justizkollektiv gelitten. Aber niemand zwang ihn, dem Strafvorschlag zu folgen. Jedoch, Einzelentscheidungen, die eine Portion Zivilcourage erfordert hätten, zählten nicht zu den charakterlichen Stärken von Staatsanwalt Kampa. „Und deswegen fühle ich mich heute schuldig.“

Bis zur Wende glaubte Rudi Kampa auch an das Ideal des sozialistischen Kollektivs. Erziehungsmaßnahmen hätten sie die Strafmaßnahmen genannt. Bei nicht politischen Prozessen war die Eingliederung des Straftäters in das Arbeitskollektiv zum Beispiel immer ein strafmildernder Umstand. Daß das Strafrecht der DDR in erster Linie der Herrschaftswahrung diente, dämmerte Kampa erst in vielen Gesprächen, die er mit Vertretern des Runden Tisches in Halleführte. In den politischen Prozessen war er nicht Herr des Verfahrens. „Aber ich habe Andersdenkende durch die Stasi-Vorgaben kriminalisiert. Im Endeffekt war ich Devisenbeschaffer, denn die BRD hat uns die Gefangenen für teures Geld abgekauft.“ Da Menschenhandel unter Strafe steht, sinniert er weiter, könnte man ihn wohl wegen Beihilfe anklagen.

„Ich will mich entschuldigen“

Seine politischen Verfahren bewegen ihn, viele Fragen an sich selbst, an seine Kollegen, die das System mitgetragen haben, hätte er. „Doch mit denen kann ich nicht darüber reden.“ Zu sehr wird das Arbeitsklima im Stadtgericht von Mißtrauen gestört. Die meisten Staatsanwälte und Richter bangen um ihre Weiterbeschäftigung. Würde er auch mit einem ehemals wegen Republikflucht Verurteilten über seine Rolle als Staatsanwalt im Verfahren reden wollen? „Das ist schwer. Ich kann das Unrecht, was ich anderen angetan habe, nicht mehr gutmachen, aber ich will mich entschuldigen.“ Gesprächskreise und offene Diskussionsrunden regt er in Halle an. Gemeinsam mit der ÖTV arrangierte er in der vergangenen Woche einen Gesprächsabend mit dem Analytiker Maaz. Thema: „Der Gefühlsstau“.

Besonders bei der Frage nach seinen beruflichen Perspektiven gerät er ins schleudern. Seit November schon schmort der Fragebogen der Vorprüfstelle auf seinem Schreibtisch. Der treibt ihm die Zornesröte ins Gesicht: „Wo bleiben in diesem Übernahmeverfahren die rechtsstaatlichen Grundsätze?“ wettert er. Zwar könnte er sich damit einverstanden erklären, daß sein zukünftiger Dienstherr, Justizminister Remmers, CDU — Westimport aus Niedersachsen — in Stasi-Akten und bei der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter nach seiner Vergangenheit forscht, aber „wie soll ich mich auf das Verfahren vorbereiten, wenn ich diese Akten selber nie zu Gesicht bekomme?“.

Teilweise hat Kampa bei seinen staatsanwaltlichen Ermittlungen sehr eng mit der Stasi zusammengearbeitet. Er ist sicher, daß sie ein Dossier über ihn angelegt haben. Dennoch fürchtet er, der Vorprüfungssausschuß könne ihm „einen Brocken“ vorlegen, könne ihm sagen, das MfS habe ihn als Mitarbeiter geführt. „Man weiß doch, wie die ihre Mitarbeiter erfunden haben.“ Und das er erzählen soll, wann er in „Massenorganisationen“ welche Funktionnen innegehabt hat, sieht er einer Selbstanzeige gleich. Mit jeder ehrlichen Auskunft, so fürchtet er, könne er sich selbst belasten und „Minuspunkte“ gegen seine Übernahme sammeln.

Im Richterwahlausschuß sitzen sechs Parlamentarier aus Sachsen- Anhalt und vier Ex-DDR-Staatsanwälte mit Stimmrecht. Die Verhandlungen werden von einem Beauftragten des Justizministers, ohne Stimmrecht, moderiert. Kampa hält die Zusammensetzung für bedenklich. „Niemand garantiert mir, daß sie ihre Vergangenheit geklärt haben. Wie wollen sie mich beurteilen?“

„Aber das kriegen wir hin“

Verfallene Dächer, zersplitterte Fenster und eingetretene Türen sieht Rudi Kampa, wenn er aus dem Fenster guckt. „Aber das kriegen wir hin, in 15 Jahren ist diese Stadt wieder ein Schmuckkästchen.“ Der 37jährige Staatsanwalt blickt optimistisch in die Zukunft der Stadt Halle. Nach dem Krieg wurde die historische Substanz Halles vernachlässigt. Die Gelder flossen in den Bau von Halle-Neustadt, der ersten sozialistischen Trabantenstadt in Plattenbauweise. Dort wohnt auch Rudi Kampa mit Frau und seinen zwei Kindern in einer Dreiraumwohnung. Noch sind die Mieten preiswert, aber wie lange noch? Kampa ist pessimistisch, wenn er an die Zukunft vieler Hallenser denkt: „Die Alten, Schwachen und Jungen werden doch bei dieser neuen Gesellschaftsstruktur auf der Strecke bleiben.“ Damit sie künftig nicht ganz ohne Rechtssicherheit leben, überlegt sich Kampa, weiterhin als Jugend-Staatsanwalt zu arbeiten. Was ihn qualifiziert? „Na, juristisch wenig, aber für mich stand und steht der Mensch im Vordergrund. Helfen, das ist meine Aufgabe.“

Trotz steigender Kriminalität im Bezirk fühlt sich Kampa an seinem Arbeitsplatz unterfordert. Gerade mal eine handvoll Fälle hat er in diesem Jahr bearbeitet. Bagatelldelikte beschäftigen ihn: Junge Mädchen, die mal ausprobieren wollen, wie Lippenstiftklauen geht. Läßt die Justiz ihre Aufgaben schleifen? „Nicht direkt. Aber die meisten Richter beraumen keine Termine an, weil sie sich unsicher fühlen mit dem neuen Rechtssystem. Außerdem wissen sie gar nicht, ob sie weiterhin als Richter arbeiten dürfen.“

Die Rechtsprechung pausiert — die Justiz wartet ab

Behördenleiter Fritz Sydow zieht die Schulter hoch. Seit sechs Monaten kennt er die Agonie der Justiz in der Ex-DDR. Es fehlt nicht mehr viel und er muß den Rechtsstillstand ausrufen. Richter und Staatsanwälte in der Ex-DDR starren wie das Kaninchen auf die Schlange auf das Datum 15. April. Dann sollen die Würfel gefallen und geklärt sein, wer weitermachen darf. Bis dahin ist allgemeine Duldungsstarre angesagt: „Niemand will sich durch staatsanwaltliche Anträge oder Urteile besonders hervortun.“ Auch Staatsanwalt Kampa aus der Abteilung „Allgemeines“ drängt es nicht. In Zweifelsfragen sucht er den fachlichen Rat der Westkollegen, die aus Niedersachsen an die Saale gereist sind und die Gerichtsbarkeit aufbauen sollen. Dennoch, Müßiggang ist nicht Kampas Stärke. Tagsüber sitzt er in der schal riechenden Keminate unterm Dachjuchhé bei der Stadtstaatsanwaltschaft und bildet sich weiter. Liest ein paar Stunden in der vierbändigen „Staatsbürgerlichen Arbeitsmappe“ und hofft, schrittweise in die Philosophie des Rechtsstaates westdeutscher Ausprägung einzudringen.

Deckel an Deckel säumen Schönfelder, Palandt und andere Gesetzessammlungen und -kommentare die Schreibtischkante. „Wenn wir schon nicht vernünftig geschult werden, greife ich zur Selbsthilfe.“ Kampa sieht die Dinge des Lebens pragmatisch, „rational“, sagt er.