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Hauptstadt-Streit belastet Koalition

■ SPD will Entscheidung über Regierungssitz nicht verschieben/ Erster Streit in der großen Koalition/ CDU und SPD kritisieren Bonner Gutachten

Berlin. Dreieinhalb Wochen nach Bildung der großen Koalition ist es gestern zum ersten großen Streit zwischen CDU und SPD gekommen. Die SPD kritisierte den Vorstoß des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, der am Wochenende gefordert hatte, die Entscheidung über den Sitz der Bundesregierung zu verschieben. Diepgen hatte erklärt, der Bundestag solle erst »in angemessener Zeit« über diese Frage entscheiden. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ditmar Staffelt konterte gestern, das »Wegschieben einer Entscheidung« sei »wenig nutzbringend«. Die Entscheidung über die Frage »Bonn oder Berlin« müsse noch in der ersten Jahreshälfte fallen, bekräftigte auch der Landesvorsitzende der SPD, Walter Momper.

Seinen Vorstoß für eine Verschiebung habe Diepgen nicht mit der SPD abgesprochen, bemängelte Staffelt. In der nächsten Woche stünden in Bonn »wesentliche Investitionsentscheidungen« an, erläuterte der SPD-Politiker. Damit könne eine Vorentscheidung verbunden sein, den Regierungssitz am Rhein zu belassen. Die Bonner SPD gehe ebenfalls davon aus, daß jetzt der richtige Zeitpunkt sei, die Hauptstadt-Frage zu klären.

Auch SPD-Wirtschaftssenator Norbert Meisner ging in dieser zentralen Frage gestern auf Anti-Diepgen-Kurs. Die Entscheidung für einen Umzug der Regierung müsse jetzt fallen, erklärte Meisner. Nötig sei ein eindeutiges Signal für Investoren, sich zu Ostdeutschland als Wirtschaftsstandort zu bekennen.

Diepgen fürchtet nach wie vor, daß die Stimmung in Bonn zur Zeit für Berlin ungünstig ist und die Stadt zunächst mehr für sich werben muß. Hoffnungen setze man unter anderem auf den Regierungswechsel in Hessen, weil der designierte rot- grüne Ministerpräsident Hans Eichel als Berlin-Freund gelte, sagte Senatssprecher Dieter Flämig. »Es kann nicht unser Ziel sein, möglichst schnell eine Entscheidung gegen Berlin herbeizuführen«, erklärte Flämig. Gleichzeitig versuchte er, den Konflikt mit der SPD herunterzuspielen. »Ich sehe im Augenblick«, so Flämig treuherzig, »keinen Dissens zwischen den Koalitionsparteien.« Keine Antwort wußte Flämig auf den Vorwurf der SPD, Diepgen habe seinen Vorstoß nicht abgesprochen.

Einigkeit demonstrierten die Koalitionspartner in der Kritik an dem Prognos-Gutachten (siehe Bericht auf der folgenden Seite), mit dem die Stadt Bonn gestern die hohen Kosten eines Regierungsumzuges zu belegen versuchte. Diepgen sprach von »vordergründigem Lobbyismus« in Bonn. Die »historische Bedeutung« einer Entscheidung für oder gegen Berlin sei bisher zu kurz gekommen, sagte er nach Angaben von Flämig. Gegenwärtig ließen sich die Kosten eines Umzugs gar nicht seriös ermitteln.

Darüber hinaus sei die Expertise realitätsfern, schimpfte der Senatssprecher. Das Gutachten gehe davon aus, daß der Umzug sofort stattfinde. In einer von Berlin vorgeschlagenen Übergangszeit von zehn Jahren fielen jedoch viele Kosten weg.

SPD-Chef Walter Momper bezeichnete das Gutachten als »unseriös wie andere Zahlen«. Allein die in Bonn entstehenden wirtschaftlichen Kosten seien hochgerechnet worden, nicht aber die wirtschaftlichen Auswirkungen in Berlin.

Schützenhilfe für ihre Kritik an Diepgen bekam die Landes-SPD gestern von dem Berliner FDP-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Lüder. Er plädierte in Bonn dafür, zumindest über den Parlamentssitz bald zu entscheiden — und zwar zugunsten von Berlin. Auch die Bonn- Lobby macht Druck. In allen Fraktionen des Bundestages wachse der Wille, die Entscheidung noch vor dem Sommer zu treffen, sagte der SPD-Abgeordnete Horst Ehmke. Nach seinen Worten werden dem Bundestag spätestens im März zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zur Frage des künftigen Sitzes von Parlament und Regierung vorliegen. hmt

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