Die „Tamil Tigers“ verlieren Zähne

Gegenüber gemäßigteren Guerilla-Organisationen der Tamilen verlieren die „Tigers“ an Boden/ Dennoch ist kein Waffenstillstand in Sicht/ 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Kampfgebiet geflohen/ Indien bleibt hart gegenüber Befreiungsorganisationen/ China liefert Waffen an Sri Lanka  ■ Von W. Keller/M. Stürzinger

Chandrawati kann es immer noch nicht fassen. Über sechs Monate ist es nun schon her, seit ihr Ehemann „verschwunden“ ist. Am 25.Juli letzten Jahres wurde er von Polizisten der gefürchteten „Special Task Force“ (STF), einer Antiterroreinheit Colombos, verhaftet. Die STF versetzt die Bevölkerung im Osten Sri Lankas wieder in Angst und Schrecken, seit im Juni letzten Jahres erneut militärische Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und den tamilischen „Befreiungstigern“ (LTTE) ausgebrochen sind.

Chandrawati und ihr Mann Sivakumar hatten sich nach Ausbruch der Kämpfe aus ihrem Dorf in die Gebäude der Batticalca Universität nach Vandaramulla geflüchtet, die binnen kürzester Zeit fast 30.000 Menschen aufnehmen mußten. Aber selbst dort waren sie vor Verfolgung nicht sicher. Am 25.Juli kam eine Einheit der STF und verhaftete Sivakumar und andere junge Männer. Eine Erklärung dafür gab es nicht. Seitdem ist der 26jährige spurlos verschwunden. Natürlich macht sich Chandrawati, die im achten Monat schwanger ist und mittlerweile aus Angst Vandaramulla verlassen hat und mit vielen anderen im Vivekananda Flüchtlingslager in Colombos Stadtteil Maradana lebt, noch Hoffnungen: „Er wird irgendwann wieder auftauchen, schließlich muß er doch unser erstes Kind sehen.“

Chandrawati ist eine von derzeit 1,2 Millionen Flüchtlingen, die in über 700 Lagern leben. „Displaced people“ heißen sie offiziell. Nicht alle haben so viel mitgemacht wie die beiden, und nicht alle Flüchtlinge sind Tamilen. Auch Sinhalesen und Moslems sind vor der Brutalität des Krieges geflüchtet, haben versucht, sich vor marodierenden Soldaten, den mordenden LTTE-Guerillas oder irgendwelchen bewaffneten Bürgerwehren in Sicherheit zu bringen. Niemand weiß, wie lange das Flüchtlingsdasein noch dauern wird. Im Vivekananda-Camp, eigentlich einem Festsaal von der Größe einer Turnhalle, leben derzeit 420 Personen auf engstem Raum. Das staatliche Amt für Sozialdienste versorgt sie mehr schlecht als recht mit Nahrungsmitteln. Zusätzliche Hilfe kommt von privaten Organisationen. „Aber die ganze Hilfe für die Flüchtlinge ist wie ein Faß ohne Boden. Wir schaffen es gerade, die Leute am Leben zu halten. Aber was soll mit ihnen zukünftig passieren?“ fragt Suila Abeysekera, die im Auftrag einer Frauengruppe die Lager in Colombo besucht. „Nur wenn der Krieg beendet ist, können sie zurück in ihre Heimat. Aber das kann noch lange dauern.“ Zu den 1,2 Millionen Flüchtlingen kommen noch einmal 122.000 Tamilen, die nach dem Juni 1990 in Südindien Sicherheit suchten.

Enttäuschte Hoffnungen

Dabei hatten viele Tamilen Ende März letzten Jahres neue Hoffnungen auf Frieden gehegt, als die letzten indischen Soldaten Sri Lanka verließen. Diese hatten es während ihrer 2 1/2jährigen Stationierung nicht geschafft die immer komplizierter werdenden innenpolitischen Verhältnisse im Inselstaat durch ihre Präsenz zu entwirren. Im Gegenteil: Mit ihrer Stationierung nahm die Polarisierung der Bevölkerung zu. Zu dem seit Jahren währenden Konflikt zwischen Tamilen und Sinhalesen kamen neue hinzu — Tamilen bekämpften Tamilen, Sinhalesen massakrierten Angehörige ihrer Volksgruppe und neuerdings hat sich auch das Verhältnis zwischen Tamilen und der etwa eine Million Menschen zählenden muslimischen Gemeinschaft dramatisch verschlechtert.

Nach dem Abzug der Inder aus Sri Lanka befanden sich die „Befreiungstiger“ wieder in einer komfortablen Lage. Mit der srilankischen Regierung von Präsident Premadasa vorübergehend in bestem Einvernehmen, waren sie von ihr mit Waffen im Kampf gegen ihre tamilischen Rivalen unterstützt worden.

Am 12.Juni attackierte die LTTE überraschend 15 Polizeistationen an der Ostküste. Hunderte von Polizisten wurden entführt, Dutzende danach niedergemetzelt. Der überraschende Kriegsbeginn mitten in einer Verhandlungsphase sowie die Ermordung unbewaffneter Polizisten kosteten die „Tigers“ weitere Sympathien. Aber die menschenverachtende Vorgehensweise der Armee ließ vielen Bewohnern des Nordens und Ostens keine andere Wahl, als erneut die LTTE zu unterstützen.

Obwohl die Regierung immer wieder betont, die Aktionen der Streitkräfte richteten sich ausschließlich gegen Kämpfer der LTTE, kommt es häufig zu Vergeltungsangriffen der Soldaten auf unbeteiligte Zivilisten. Die Vorgehensweise der Streitkräfte kann in vielerlei Hinsicht mit der verglichen werden, die sie auch beim Kampf gegen die während der letzten drei Jahre im Süden aktiv gewesene sinhalesische „Janatha Vimukti Peramuna“ (JVP) anwandten: Terror wird mit Gegenterror beantwortet, es gilt, die Zivilbevölkerung einzuschüchtern. Verhaftungen und langwierige Gerichtsverfahren werden vermieden. Die Aktionen zielen vorwiegend auf die physische Vernichtung aller verdächtigen Personen ab. Eine Besuchsdelegation des Europaparlaments hat Ende letzten Jahres die Opfer des Anti-JVP-Terrors beziffert: 60.000 Personen seien in den Südgebieten seit 1987 „verschwunden“.

Über die Opfer der seit Juni 1990 anhaltenden Auseinandersetzungen im Norden und Osten gibt es nur Spekulationen. Informationen von Menschenrechtsorganisationen in Sri Lanka zufolge sind bisher mindestens 5.000 Zivilisten gestorben.

LTTE ist de facto eine Ordnungsmacht

Trotz ihrer Vorgehensweise haben es die Streitkräfte bisher nicht geschafft, die Kämpfer der LTTE zu besiegen, obschon sie dabei seit geraumer Zeit eng mit tamilischen Organisationen zusammenarbeiten, die mittlerweile nicht mehr im srilankischen Staat, sondern in der LTTE ihren Hauptfeind sehen. So stehen die „Eelam Peoples Democratic Party“ (EPDP), die „Peoples Liberation Orgnisation of Tamileelam“ (PLOT) und die „Tamil Eelam Liberation Organisation“ (TELO) auf Seiten der Streitkräfte und beteiligen sich an deren militärischen Aktionen in den verschiedenen Landesteilen. Die Gruppierungen, die um ihr Überleben kämpfen und sich deshalb auf den „Kuhhandel“ einlassen, erhalten von der Regierung Waffen und Gelder für ihren Einsatz gegen die LTTE (siehe Interview).

Aus ihren Stellungen auf der nördlichen Halbinsel Jaffna schießen die Streitkräfte Granaten auf die umliegenen Gebiete ab. Die Luftwaffe fliegt schwere Angriffe, mit tieffliegenden Kampfhubschraubern werden Menschen gejagt, aus „Avro“ Flugzeugen selbstgefertigte sogenannte barrel-bombs über der nördlichen Halbinsel abgeworfen. Dabei handelt es sich um Fässer, die ein Gemisch aus Teer und Benzin enthalten und mit einem Zünder versehen sind. Die Bomben verursachen Brandverletzungen und großen Sachschaden. Sri Lankas Luftwaffe hat sich nicht davor gescheut, mit Müll und menschlichen Exkrementen gefüllte Fässer abzuwerfen — im Volksmund „Cholerabomben“ genannt.

Trotzdem haben die „Befreiungstiger“ derzeit auf der Halbinsel und den anderen nördlichen Gebieten die effektive Gebietsgewalt im Sinne staatsähnlicher Überlegenheit und Ordnungsmacht. Nach Angaben der Regierung kontrollieren die srilankischen Streitkräfte nur etwa 10 Prozent der Halbinsel und 20 bis 30 Prozent der südlicheren Gebiete.

Einen wichtigen psychologischen Sieg errangen die „Befreiungstiger“, als im September die Armeeführung das Fort von Jaffna als militärisch nutzlos bezeichnete und es endgültig aufgab. Noch Tage zuvor hatten gerade die Militärs die 400 Jahre alte Festung zum Symbol der Regierungspräsenz erklärt. Zwei Monate nach diesem demoralisierenden Rückzug erlitt die Armee ein noch größeres Debakel, als die LTTE das Armeelager in Mankulam nördlich von Vavuniya eroberte. Der strategisch bedeutsame Stützpunkt war völlig unzureichend geschützt. Dutzende von Soldaten wurden bei dem Angriff getötet. Mittlerweile hat die LTTE in praktisch jedem Dorf auf der Halbinsel Dorfräte eingesetzt, sogenannte „Sittur Avai“. Ihre Mitglieder sind vorwiegend LTTE-Sympathisanten und unter anderem für den Einzug von Steuern verantwortlich. Sogenannte „vigilance-groups“ (Wachtrupps), die ebenfalls von der LTTE in den Dörfern eingsetzt sind, haben die Aufgabe, das Eindringen der srilankischen Truppen zu verhindern und Dorfbewohner zu überwachen.

Jeder, der die Halbinsel in Richtung Süden verlassen will, muß vorher ein sogenantes „exit-permit“ beid der LTTE erwerben. Die Erteilung ist willkürlich; vor allem für Jugendliche, die von der LTTE vorzugsweise in ihre Kader rekrutiert werden, ist es sehr schwer, die Halbinsel zu verlassen. Die Erteilung der Genehmigung wird unter anderem von der Zahlung eines Geldbetrages von derzeit 10.000 Rupien abhängig gemacht. Die Ausreise ganzer Familien ist nur möglich, wenn diese vorher ihr gesamtes Eigentum an die LTTE überschrieben haben.

Im Osten der Insel waren die Streitkräfte erfolgreicher. Dort sind vor allem die Bodentruppen sowie die gefürchtete „Special Task Force“ im Einsatz. Die Vorgehensweise ist dort überwiegend „punktuell“, das heißt, daß nach einem Anschlag der LTTE (zum Beispiel durch Straßenminen) der Tatort weiträumig abgesperrt wird. Anschließend finden sogenannte „cordon and search operations“ statt, bei denen Personen willkürlich verhaftet werden. Bei solchen Aktionen kommt es immer wieder zu Vergeltungsaktionen gegen Zivilisten.

Granaten in Heimarbeit produziert

Mit ihrer brutalen Vorgehensweise gelang es den Streitkräften während der letzten Monate, die LTTE in die Dschungelgebiete zurückzudrängen. Trotzdem ist die Guerilla mit ihrer Strategie weiterhin in der Lage, den Streitkräften erhebliche Verluste zuzufügen. Allein im Dezember letzten Jahres sind nach Regierungsangaben bei Anschlägen der LTTE mindestens 67 Soldaten ums Leben gekommen.

Die Wirtschaft in den tamilischen Gebieten ist weitgehend ruiniert. Der Lebensmittelnachschub in den Norden funktioniert nur unzureichend, weil Lastwagen wegen der Kampfhandlungen nur noch sporadisch die Gebiete nördlich der Stadt Vavuniya erreichen.

Die Preise auf der Halbinsel sind deshalb um ein Vielfaches höher als in anderen Landesteilen. So kostet ein Kilo Reis in Jaffna bis zu 100 Rupien (4 DM), während er in anderen Landesteilen für 18 Rupien zu erwerben ist. Viele Waren unterliegen zusätzlich noch dem Besteuerungssystem der LTTE, die damit zu den Millionen kommt, die sie für Waffenkäufe benötigt.

Der Verkauf oder Konsum zahlreicher Produkte ist verboten, dazu zählen in Sri Lanka produzierte Alkoholika und Produkte wie Coca- Cola etc. Die LTTE hat die Bauern angewiesen, keine „cash-crops“, wie Chillies und Tabak, anzubauen, sondern sich auf den Anbau von Grundnahrungsmitteln — vor allem Reis — zu beschränken.

Unterdessen wächst die Arbeitslosigkeit auf der Halbinsel. Zu einem neuen Beschäftigungssektor wird zunehmend die „Rüstungsindustrie“. In zahlreichen Gebieten der Halbinsel werden — zum Teil in Heimarbeit — Granaten und anderes militärisches Gerät entwickelt, produziert und getestet. Viele Menschen sind mittlerweile in diesem Bereich beschäftigt.

Anlaß zur Zuversicht gab ein Angebot der LTTE, die nach über einem halben Jahr heftigster Kämpfe zum Neujahr einen einseitigen Waffenstillstand verkündeten. Aber schon 10 Tage später platzten alle Friedenshoffnungen wieder, als der Vize- Verteidigungsminister Ranjan Wijeratne das Waffenstillstandsangebot der LTTE engültig ablehnte.

Hintergrund für diesen Optimismus ist das in jüngster Zeit gewachsene Selbstvertrauen der Regierungstruppen, das sich offensichtlich auf die derzeitigen umfangreichen Waffenlieferungen, vor allem aus der VR China, gründet. Hinzu kommen die anhaltenden Massenrekrutierungen junger Sinhalesen.

Minister Wijeratne will nun alle sechs Wochen 5.000 neue Soldaten in den Norden schicken. Er kündigte an, die Arme von heute schätzungsweise 70.000 bis zum nächsten Jahr auf insgesamt 100.000 Mann aufzustocken. Ferner will er eine Einheit mit 40.000 paramilitärischen Kräften aufstellen, die „National Guard Battalion“ heißen soll.

In Südindien verlieren „Tigers“ ihren Biß

Ein weiterer Grund für die Ablehnung des Waffenstillstandes ist der sinkende Stern der „Tigers“ im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, ihrem traditionellen Rückzugsgebiet. Bisher hatten sie die wechselnden Allianzen in Indiens Parteienlandschaft geschickt zu ihrem Vorteil ausnutzen können. Von der Regierung in Tamil Nadu waren sie stets mit Samthandschuhen angefaßt worden. So boykottierte Muthuvel Karunanidhi, der Ministerpräsident von Tamil Nadu, im März letzten Jahres den Empfang anläßlich der Rückkehr der indischen Truppen aus Sri Lanka und beschuldigte diese gar, über 3.000 Tamilen getötet und unzählige Frauen vergewaltigt zu haben. Im Juni verübten die „Tigers“ in Tamil Nadus Hauptstadt Madras ein Attentat auf 15 Mitglieder der EPRLF, ohne daß bis heute jemand verhaftet worden wäre.

Rajiv Gandhi forderte bereits damals den Rücktritt der Regierung von Karunanidhi. Doch damals war Gandhis Congress-(I)-Partei in der Opposition und Karunanidhi konnte aus sicherer Warte mit einem hochnäsigen offnenen Brief antworten. Mit dem Regierungswechsel in Delhi hat sich die Lage entscheidend verändert. In Tamil Nadu ist die Congress- (I)-Partei zwar nach wie vor in der Oppositon. Die neue Zentralregierung von Chandra Shekar ist jedoch auf ihre Unterstützung angewiesen.

Gandhi wiederholte die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung von Tamil Nadu umgehend. Er warf ihr vor, die LTTE finanziell zu unterstützen. Die „Tigers“ könnten sich in Tamil Nadu frei bewegen und auch Waren und Waffen schmuggeln. Als derartige Vorwürfe im Parlament erhoben wurden und es zudem hieß, die LTTE hätte nicht nur Mitglieder der Guerilla im nordöstlichen Bundestaat Assam ausgebildet, sondern unterhielte außerdem noch Kontakte zu weiteren militanten Gruppierungen Indiens, fand es Karunanidhi höchste Zeit, in die Offensive zu gehen. Bei einem Treffen im Dezember wies er Shekhar darauf hin, daß die LTTE seit 1983 in Tamil Nadu anwesend und von der vorherigen Regierung unter M.G. Ramachandran unterstützt worden sei.

Inzwischen erhielt die Regierung in Colombo die entscheidende Schützenhilfe aus Delhi. Am 30.Januar löste Chandra Shekhar die Regierung Karunanidhi auf und unterstellte den Bundesstaat Tamil Nadu direkt der Zentralregierung. Als Grund gab er den Zerfall von Recht und Ordnung infolge der andauernden Präsenz der LTTE an. Zweifellos wird dieser Schritt — immerhin werden nun nach dem Punjab, Kaschmir und Assam bereits vier Bundesstaaten direkt aus Delhi reagiert — nicht ohne weitreichende Folgen für Indiens Innenpolitik bleiben. So könnten Karunanidhi, Teile seiner „Dravida Munnetra Kazhagam“ (DMK) und andere tamilisch-nationalistische Parteien den engen Schulterschluß mit der LTTE wagen, um die Erfahrungen der srilankischen Guerilla in einem neuen Sezessionskampf zu nutzen: Die Loslösung Tamil Nadus aus der indischen Union. Tamil Eelam, der separate Staat, für den die LTTE in Sri Lanka kämpft, könnte dann Teil dieses nicht zum ersten Mal angestrebten Tamilenstaates werden.