: Unbequeme Wahrheiten
■ Die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR würden gern ganz anders sein
Die Pleitewelle, die derzeit in der ehemaligen DDR das ganze Ausmaß deutlich macht, in dem das alte Regime abgewirtschaftet hatte, stellt zugleich die Bürgerbewegungen vor eine bittere Wahrheit. Frieden, Menschenrechte, Demokratie Jetzt — die Opposition der DDR hatte sich immer auf eher politische Themen kapriziert und den Drang nach westlichem Wohlstand der Bewegung der Übersiedler überlassen. Letztere war eindeutig die stärkere. Auch nach der Wende haben die Oppositionsgruppen des Herbstes 89 die sozialen Fragen nicht zu ihrem Thema gemacht, die Vereinigung mit der kapitalistischen Bundesrepublik ging ihnen gegen den Strich. Die Mandatsträger in den Kreistagen, Stadtparlamenten und in den Landtagen bekommen das zu spüren: Sie sind mit den realen Problemen konfrontiert, und da bekommen sie kaum Zuarbeit aus den eigenen Reihen.
Was tun? Eindeutig ist die Antwort von Berliner Sprechern des Neuen Forums um Bärbel Bohley. Sie nehmen offenbar hin, daß die Gruppen des Herbstes 89 auf absehbare Zeit kein Machtfaktor in der neuen Republik sind, und nehmen deshalb eine Konkurrenz zu den Grünen wie den Verzicht auf festere organisatorische Strukturen in Kauf. Das Modell „Netzwerk der Basisinitiativen“ entsprach in den halblegalen DDR-Zeiten den Umständen. Seine Grenzen waren in den 70er Jahren im Westen Argumente für die Gründung der Grünen.
Die Basisgruppen der Bürgerbewegung, die mehr als das Netzwerk wollen, pflegen gleichwohl Rivalitäten aus den heroischen Gründerzeiten und flüchten sich in ein Labyrinth taktischer Winkelzüge. Es mutet schon gespenstisch an, wenn in Dresden jemand selbstsicher sagt, daß sich die West-Grünen dieses Jahr spalten werden, zwischen Bodensee und Kiel weiß aber kein Kreisverband davon.
Die Bürgerbewegungen pflegen ihre Authentizität. Ihnen ist unwohl bei dem Wort „Anschluß“ und beim Bündnis mit den West-Grünen. Aber kaum eine Idee, auf die heute die Bürgerbewegungen ein Erstgeburtsrecht anmelden, ist vor zehn Jahren nicht schon bei den Grünen im Westen hin- und hergewendet worden. Wer politisch bis fünf rechnet, wird auch schnell feststellen, daß am Zusammenschluß kein Weg vorbei geht. Wenn man analysiert, was derzeit in der Soziologie der Bürgerbewegungen passiert, wird man auch auf ein bekanntes Phänomen stoßen: an den „Berufspolitikern“, die von der Politik leben und das nicht nur bis zur nächsten Rotation wollen, hängt die Existenz der Gruppen. Das ist bei allen Parteien so, nur schämen die sich nicht dafür. Klaus Wolschner
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen