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Heftige Kontroversen im Kreml zwischen Arabisten-Clan und Weltpolitikern

■ A.Wassiljew, ein Diplomat aus Schewardnadses Umgebung, beschreibt in der „Komsomolskaja Prawda“ die Entwicklung des außenpolitischen Streits über den Golfkrieg DOKUMENTATION

Für diesen Artikel hatte ich mit Leuten zu reden, die auf den Entstehungsprozeß des sowjetischen außenpolitischen Kurses unmittelbar einwirken. (...) Als Voraussetzung für ein offenes Gespräch mußte ich ihnen zusagen, daß ihre Namen in der Zeitung nicht genannt werden. Deshalb möchte ich meine Gesprächspartner folgendermaßen beschreiben: ein Diplomat, Mitarbeiter des Außenministeriums der UdSSR, der zur nächsten Umgebung E. A. Schewardnadses gehört, sowie ein Arabist, Berufspolitiker und Spezialist für den Nahen Osten. (...)

Am zweiten August vergangenen Jahres fanden in Irkutsk Verhandlungen zwischen dem Außenminister der UdSSR, Eduard A.Schewardnadse, und US-Staatssekretär James Baker statt. (...) Unerwartet wurde Baker eine Notiz (...) des Inhalts übergeben, daß der Irak die Grenze zu Kuwait überschritten habe. Dem Diplomaten zufolge nahmen weder die Russen noch die Amerikaner diese Meldung besonders ernst: (...) In der Vergangenheit hatte der Irak die Grenze zu Kuwait immer wieder einmal um ein paar Kilometer überschritten.(...) Aber eine Frechheit, wie diese, hatten wir von Saddam Hussein nicht erwartet.

Am Morgen des 3.August wurde bei Schewardnadse (im engeren Führungskreis des sowjetischen Außenministeriums und mit dem sowjetischen Botschafter im Irak, Wiktor Posuwaljuk — Anm. d. Übers.) die Position der UdSSR erörtert. (...) Die Hauptfrage war: Was wird aus unseren Leuten im Irak, wenn wir Saddam Hussein gemeinsam mit den Amerikanern verurteilen. (...) „Wir verfaßten unser Statement mit unserem Herzblut“, erinnert sich der Diplomat: (...) Wenn wir Saddam Hussein nicht jetzt stoppten, würde er uns einige Jahre später mit Kernwaffen drohen und einen Vertretungsanspruch für unsere Moslems verkünden. (...) Danach wurde die gemeinsame sowjetisch-amerikanische Erklärung über den Persischen Golf verabschiedet, die für einige Monate die Politik Moskaus und Washingtons in dieser Region vereinheitlichte. (...)

Auf alle Versicherungen Schewardnadses, die sowjetische Führung habe nicht vor, Truppen an den Persischen Golf zu schicken, antworteten die Kritiker seines Kurses später mit Zitaten aus seiner Rede vom 26.September: (...) „Vielleicht hält es der Sicherheitsrat auf Empfehlung des militärischen Stabs dieses UN-Organs für unumgänglich, ,Blitzeinsatztrupps‘ zu bilden, die vertragsgemäß aus Spezialeinheiten verschiedener Länder gebildet werden, darunter der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates.“

„Eduard Ambrosjewitsch konnte nicht anders“, meint der Diplomat, „seine Rede stand im Kontext der Ideen und Voraussetzungen des Neuen Denkens. (...) Dies alles ist in den Statuten der UNO verankert, und der Minister hat die Welt nur daran erinnert, wie wir uns diesen Statuten entsprechend zu verhalten haben. (...) Die aber, die heute Eduard Ambrosiewitsch beschuldigen, er habe uns in ein neues Afghanistan hineinziehen wollen, vergessen, daß gerade er es war, der unsere Truppen aus Afghanistan herausgeführt hat. Die heute wegen der Vernichtung des ,irakischen Brudervolkes‘ lärmen, sind dieselben, welche die Verantwortung für unsere ,Bombenteppiche‘ in Afghanistan tragen, von denen jeder ein ganzes Dorf vernichtete. (...)

Gespräche mit Vertretern des Arabisten-Clans haben bei mir den Eindruck erweckt, daß die Position der UdSSR zur Irak-Kuwait-Krise ohne Hinzuziehung der Spezialisten für diese Region formuliert wurde. (...) Nach Informationen aus einer anderen Quelle nahmen nicht einmal die Mitarbeiter der Nah- und Mittelostabteilung des sowjetischen Außenministeriums an den Vorbereitungen des Treffens zwischen Schewardnadse und Baker im November in Moskau teil. (...) Der Diplomat widersprach: „Die (in unseren Botschaften im Nahen Osten) tätigen Diplomaten denken nicht in den Kategorien der großen Politik — und das ist nur natürlich.“ (...) Ungeachtet dessen kritisierten sie die Linie des Außenministeriums zu Beginn des Konfliktes nur sehr vorsichtig. (...)

„Unserer Überzeugung nach wäre es besser gewesen, Primakow nicht nach Bagdad zu schicken“, sagt der Diplomat. In solchen Fällen wittern Intriganten vom Typ Husseins, daß da doch noch andere Varianten möglich sind. All dieses Gerede von der Lösung des Problems innerhalb der arabischen Welt ist doch Unsinn.“ (...) Das „Primakowsche Verhandlungspaket“ sei von der Möglichkeit eines friedlichen Rückzugs Saddams ausgegangen, und der Führer des Irak habe im Gespräch mit dem persönlichen Gesandten des Präsidenten der UdSSR gesagt, daß er sich der Unumgänglichkeit des Rückzugs seiner Truppen bewußt sei. (Hervorhebung durch die Red.) Primakow fürchtete, daß sich Hussein, falls auf eine Resolution (des Sicherheitsrates, die Gewalt androht, Anm. der Red.) keinerlei konkrete Schritte folgten, in seiner Ansicht bestärkt fühlen würde, daß die Internationale Gemeinschaft nur bluffe. Gleichzeitig war er dagegen, tatsächlich mit Kampfhandlungen zu beginnen. Er hielt es für das beste, wenn die Möglichkeit der Verabschiedung einer solchen Resolution wie ein Damoklesschwert über Saddam hinge — je länger, je lieber. (...) Tatsächlich ist es, der Ansicht der Arabisten zufolge, soweit gekommen, daß uns die Amerikaner bis zu einem gewissen Moment mitgezogen und dann als überflüssig zurückgelassen haben. Man hätte Washington zwingen müssen, die anderthalb Monate für aktive diplomatische Verhandlungen mit dem Irak zu nutzen, die nach der Annahme der 678-er Resolution des UN-Sicherheitsrates bis zum Beginn der Kampfhandlungen verstrichen. (...)

In der letzten Zeit wird in Moskau verstärkt davon gesprochen, daß die Anti-Irak-Koalition die UN-Resolution überschritten habe, und daß die internationale Völkergemeinschaft der Vernichtung friedlicher Einwohner des Irak nicht zugestimmt habe. Derartige Erklärungen habe man erstmals aus dem Munde des neuen Außenministers der UdSSR, A. A. Bessmertnych, vernommen. (...) Wie ich in Erfahrung bringen konnte, erlaubte es sich Bessmertnych noch als Botschafter der UdSSR in den USA, mit der Politik Schewardnadses hinsichtlich des Persischen Golfs nicht übereinzustimmen.

Von A. Wassiljew, aus der 'Komsomolskaja Prawda‘ vom 16.2 91.

Übersetzung: Barbara Kerneck

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