Naturschutzpark und Giftmüllhalde

■ Die wenig amüsante Perspektive für die neuen Bundesländer

Er betrachte den derzeitigen Eiertanz der Regierung in Sachen Steuererhöhung und Wirtschaftsmisere Ost mit einem „gewissen Vergnügen“, meinte Oskar Lafontaine am Wochenende in einem Interview. In der Tat kann sich der unterlegene Kanzlerkandidat durch die Entwicklung in Ostdeutschland und durch die chaotische Steuerdebatte in der Koalition in seinen Prognosen voll bestätigt sehen. Es ist alles so gekommen wie er vorausgesagt hat: Die im Hau-Ruck-Verfahren der Westkonkurrenz ausgesetzten Betriebe in den neuen Bundesländern brechen flächendeckend zusammen, die Westunternehmer investieren hauptsächlich in den Verkauf, nicht in die Produktion, die Länder und Gemeinden sind finanziell und verwaltungstechnisch völlig überfordert, und die sozialen Kosten der Marktwirtschaft sind um ein Vielfaches höher als die Wahlkampfversprechungen glauben machen wollten. Was wir jetzt beobachten sind die fatalen Folgen einer eklatanten Wahlkampflüge durch die regierende Koalition.

Weniger amüsiert als Lafontaine erleben die Menschen in den neuen Ländern derzeit den Zusammenbruch all ihrer Illusionen, mit denen sie vor eineinhalb Jahren nach Westen aufgebrochen sind. Allmählich wird klar, was auf sie zukommt: Jeder zweite Arbeitsplatz, heißt es inzwischen, wird verlorengehen. Fast alle werden sie ihre Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Existenzunsicherheit, Perspektivlosigkeit machen. Viele werden damit nicht fertig werden. Und nicht wenige werden sich in ihrer Hilflosigkeit an alles klammern, was angeboten wird: Wenn der gesamte Kali-Bergbau stillgelegt wird und weit und breit nichts anderes in Sicht ist, wird sogar die Einlagerung des europäischen Giftmülls zum verheißungsvollen Versprechen.

Die Politiker reden immer noch von dem irgendwann einsetzenden Aufschwung in Ostdeutschland. Mag ja sein, daß er kommt. Aber bis er kommt, wird es den größten Teil der bisherigen industriellen Kapazitäten nicht mehr geben. Und nur in wenigen Ausnahmefällen wird Neues an die Stelle des Alten treten. Das bisher praktizierte Tabula-Rasa-Konzept bei der Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft ist nicht mehr rückgängig zu machen, kaum mehr zu modifizieren. Ergebnis dieser Politik wird ein radikaler, auch die landwirtschaftliche Produktion einschließender Ent-Industrialisierungsprozeß sein. Ostdeutschland als Mischung aus Naturschutzpark und Giftmüllhalde — dies ist die wenig amüsante, aber wahrscheinliche Zukunft für die Menschen, die sich Demokratie und Wohlstand erhofft hatten. Martin Kempe