Das Übel der Banalität

Studs Terkel über den Golfkrieg und die Trivialisierung der Politik  ■ Von Rolf Paasch

Studs Terkel ist so etwas wie der Stadtschreiber Amerikas. In seinen Büchern über Chicago, den amerikanischen Traum, den Zweiten Weltkrieg und die Spaltung Amerikas in reich und arm hat er vor allem die arbeitende Bevölkerung, the common man and woman, zu Wort kommen lassen.

Geboren in dem Jahr, in dem die Titanic unterging, war Studs Terkel schon ein Discjockey, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Seine tägliche Stunde auf „WFMT Chicago“, in der er Politisches, Geschichtliches, Literatur und Folkmusik zu einer wunderbaren Radioshow zusammenmixt, ist weit über die Grenzen Chicagos berühmt. Die Aussagekraft seiner oral history ist quer durch alle politischen Lager anerkannt. Studs Terkel ist heute einer der wenigen Dissidenten dieses Landes, die dem Fernsehzuschauer gelegentlich sogar zur Hauptsendezeit zugemutet werden.

taz: Sie sagten einmal, es gebe zwei Schlüsselfiguren des 20. Jahrhunderts: Einstein und Rambo.

Studs Terkel: Diese beiden repräsentieren die beiden Alternativen, die vor uns liegen. Der einen Alternative hätte am Golf eine Politik der Sanktionen entsprochen. Mit diesem Saddam Hussein zu reden, so persers dieses Wesen auch sein mag. Zu versuchen, ihn jetzt, wo die UNO zum ersten Mal vereint ist, mit Sanktionen niederzuringen. Einstein hat in Anbetracht seiner Gleichung, die ironischerweise die Atombombe hervorgebracht hat, noch kurz vor seinem Tode gesagt: „Die Welt hat sich gänzlich verändert, mit einer Ausnahme: unserer Art zu Denken, es sei denn, wir finden eine neue Art des Denkens.“ Da stehen wir nun an der Schwelle des nächsten Jahrtausends und benehmen uns wie Rambo, eine Figur aus dem Jahre 20.000 vor Christi. Mit dem Unterschied, daß wir statt mit Schleudern und Steinäxten heute mit High-Tech-Waffen kämpfen.

Viele waren ja für den Weg Einsteins, aber jetzt, wo der Krieg einmal begonnen hat...

Jaja, dieser unselige Spruch: Jetzt im Krieg, da müssen wir unseren Präsidenten unterstützen. Was für ein Schwachsinn! Wo steht das geschrieben? In der Bibel? In Stein geschlagen?

Warum glauben die Leute denn daran?

Sehen sie sich doch unsere Fernsehberichterstattung an. Ich nenn die Fernsehleute unsere Cheerleader (EinpeitscherInnen bei Sportveranstaltungen, die zur Unterstützung der heimischen Mannschaft mit ihren Federsträußen wedeln, R.P.). Das ist unglaublich. Seit dem spanisch-amerikanischen Krieg, als der Zeitungszar Hearst sagte, „ihr besorgt die Fotografien, ich besorge den Krieg“, seitdem habe ich so einen Hurra-Patriotismus nicht mehr gesehen. Dabei zollen wir heute nicht einmal den kämpfenden Herzen unserer Truppen Tribut, sondern der Technologie. Die Ingenieure sind die wahren Helden dieses Krieges. Solange die Medienstruktur so bleibt wie sie ist, wird sich auch an der öffentlichen Meinung nichts ändern. Die Leute sind nicht dumm, aber ignorant. Tatsachen werden ihnen vorenthalten oder einfach ignoriert.

Gibt es eine Renaissance des amerikanischen Patriotismus.?

Wahrscheinlich. Aber was ist denn mit dem alten Patriotismus, in dessen Geist dieses Land vor über 200 Jahren gegründet wurde. Dem Patriotismus Jeffersons und Madisons, der von einer informierten Bürgerschaft ausging, von der Bürgerpflicht, die Autorität anzugreifen, wenn wir der Meinung sind, daß sie versagt hat. Demokratie, Town Meetings; Tom Payne und Sam Adams reden davon, den Präsidenten und seine Generäle herauszufordern, wenn sie vom richtigen Weg abkommen.

Was halten Sie von der neuen deutschen Friedensbewegung?

Ich habe die Gesichter dieser Kids auf dem Bildschirm gesehen. Da hab ich zu meiner Frau gesagt: Schau mal Ida, das sind die gleichen Kinder, die Hitler zum Ende des Krieges noch erwischt hat, die 14jährigen, die er mit Bonbons und Schokolade noch in den Kampf geschickt hat. Dies erinnert mich an die Kinder von Soweto, auch die waren vierzehn. Wie ist es denn in Deutschland dazu gekommen, das ist ja wunderbar? Einige Lehrer erzählen mir auch hier, daß die ersten Jahrgänge der Post-Reagan- Generation wieder anders denken als ihre Vorgänger. Ich will ja nicht allzu großem Wunschdenken verfallen, aber vielleicht ändert sich ja hier doch etwas.

Meinen Sie, daß die USA mit einem Sieg am Golf die Schmach der Niederlage in Vietnam tilgen wollen?

Was ist denn in Vietnam mit uns geschehen? Wir haben dort gegen die kleinen Kerle in schwarzen Pyjamas verloren und können dies bis heute nicht verkraften. Bis dahin hatten wir ja noch nie verloren. Wir waren immer die Sieger geblieben. Und auch in Vietnam hatten wir die größte Luftstreitmacht der Welt, die mehr Bomben abwarf, als im gesamten Zweiten Weltkrieg fielen. Doch diese kleinen Kerle in Vietnam konnten wir einfach nicht besiegen. Zum ersten Mal waren wir geschlagen. Stellen Sie sich mal vor: John Wayne kommt die Hauptstraße herunter. Ein kleiner Typ in einem schwarzen Pyjama hat ihm auf der Veranda seines Hauses eine blutige Nase verpaßt. Keiner fragt jedoch, was John Wayne auf der Veranda des kleinen Mannes zu suchen hatte. So wandert dieser „bedauernswerte, hilflose Riese“ (eine Zustandsbeschreibung Uncle Sams durch Richard Nixon), die Straße hinunter. Und da sieht er Woody Allen, das ist Grenada. Bis dahin hatte niemand von uns von Grenada gehört, wir dachten das wäre ein spanischer Folksong. Mittlerweile hat sich unser Held in Mohammed Ali verwandelt und der knöpft sich Woody Allen vor: bam, bam, bam. Wir haben's denen aber gezeigt, wir haben Grenada besiegt; so als wäre Grenada im Begriff gewesen, die USA mit seiner Luftwaffe anzugreifen. Eines Tages kam ich auf meinem Nachhauseweg an dieser gräßlichen Yuppie-Bar für Swinging Singles vorbei und hörte die Sektkorken knallen. Ich dachte die feiern den 4. Juli, Karneval oder den Tag der Bastille, so gröhlten die herum. Wissen Sie was die begossen? Unsere Bombardierung Libyens. Danach kam Panama, Noriega, unser Verbrecher in Mittelamerika. Heute ist es Saddam, unsere Kreation in Bagdad. Der andere Diktator da unten, Assad, kämpft jetzt auf unserer Seite. Aber das macht alles nichts, wir haben ja kein Gedächnis mehr.

Wie hat Amerika denn sein Gedächtnis verloren?

Wir haben uns zu sehr an die Trivialisierung der Ereignisse durch die Medien gewöhnt. In den Nachrichten sehen wir, wie die Mutter ihr totes Kind aus dem bombardierten Bunker herausträgt und im nächsten Schnitt preist uns eine hübsche Schauspielerin ein Deodorant an. So wird mit der Zeit dem toten Kind und dem Deodorant die gleiche Bedeutung zugemessen; besonders in einem Land, daß nie bombardiert oder erobert worden ist. Alle anderen Länder, die Alliierten und die Achsenmächte haben den Krieg im eigenen Land erfahren, nur wir nicht. Die Werbung lehrt uns, für Geld zu lügen. Die Schaffung von sogenannten „Celebrities“, den „Berühmtheiten“, rückt in den Hintergrund, was diese gefeierten Stars überhaupt noch zu sagen haben. Diese Lügen und Trivialitäten schwappen dann in die Sphäre der Politik hinüber. Auch ich bin nur im Fernsehen, weil ich den Status einer „Celebrity“ habe. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, sagen die Leute immer ganz begeistert, wenn sie mich treffen. „Sie sind der Schriftsteller, ich habe ihre Bücher gelesen.“ Und ich habe dann immer Angst, sie nach einem Buchtitel zu fragen oder gar nach dem, was ich denn im Fernsehen gesagt habe. Dies spielt keine Rolle mehr, es ist gleich wieder vergessen.

Hannah Arendt hat von der „Banalität des Bösen“ gesprochen. Ich möchte dies heute umdrehen: Das „Übel der Banalität“ erklärt all das, worüber wir bisher gesprochen haben. „Jetzt, wo wir einmal im Krieg sind, müssen wir weitermachen.“ — Was für ein gedankenloser Spruch, was für ein trivialer Satz!

Ist nicht der Golfkrieg auch ein wichtiger Schritt zur Trivialisierung und Amerikanisierung der Weltkultur? Schließlich hat Henry Kissinger letztens gesagt, das Wichtigste an diesem Krieg, sei die Tatsache, daß er durch amerikanische Augen gesehen werde, womit er offensichtlich CNN meinte.

Natürlich wird der Krieg auch in Europa eine vorzügliche Fernsehserie abgeben. Aber sie haben da Kissinger erwähnt. Kissinger war verantwortlich für den Horror und das Desaster in Kambodscha. Mein Freund, der Journalist Seymour Hearsh, hat ein Buch über Henry Kissinger geschrieben, das ihn eigentlich hätte erledigen müssen. Doch heute ist er wieder zurück im Fernsehstudio, als hochbezahlter Kommentator, als „Celebrity“, dessen Vergangenheit keine Rolle mehr spielt. Es gibt keine Erinnerung mehr. Henry Kissinger ist das lebende Symbol für unseren Gedächnisverlust.

Befinden wir uns da nicht in einer absurden Situation, in der nur noch eine militärische Niederlage dieses Erinnerungsvermögen wieder auffrischen könnte?

Deswegen stehen wir ja unter dem Zwang, am Golf gewinnen zu müssen. Es gibt da den Spruch eines professionellen Football-Trainers, eines schrecklichen Menschen, der aber von allen idolisiert wird: „Der Sieg ist alles.“ Vielleicht haben Sie das ja auch schon bemerkt: We hate loosers in this country.

Und hätte ich Studs Terkel nach unserem Gespräch nicht mit sanfter Gewalt ins Auto geladen, dann wäre der kleine Irrwisch mit dem schütteren und immer zerrauften weißen Haar an diesem eiskalten Februarabend aus dem Radiosender wie immer mit dem Bus nach Hause gefahren. In einem Chicago, das er besser kennt als jeder andere Zeitzeuge, in Amerika, dem er mit seinem Uher Tonbandgerät (heute ist es ein Sony) seit Menschengedenken mit Symphatie und Besorgnis den Puls fühlt.