Gewalt und Gerechtigkeit

■ Umberto Eco über den „gerechten“ Krieg DOKUMENTATION

Gibt es einen gerechten Krieg? Über dieser Debatte, die seit zwei Wochen die Gemüter bewegt, hängt der Schatten eines Mißverständnisses. Es ist, als ob man diskutieren würde, ob zwei parallele Geraden schwerer sind als eine Quadratwurzel. Ich versuche zu verstehen, was an der Frage nicht hinhaut, und stelle sie in einer andern Weise. Zugegeben: Die Gewalt ist ein Übel. Gibt es aber trotzdem Fälle, in denen eine gewaltsame Reaktion zu rechtfertigen ist? Aufgepaßt: Das bedeutet nicht, daß sie gerecht und gut ist. Ein Bein zu amputieren ist biologisch gesehen gewissermaßen unrecht, aber im Fall eines Gangräns ist es gerechtfertigt.

Auch die Befürworter der Gewaltfreiheit sind im allgemeinen der Ansicht, daß es Gewalt gibt, die zu rechtfertigen ist. Selbst Jesus hat angesichts des Skandals der Händler im Tempel einigermaßen brüsk reagiert. Nicht nur die Offenbarungsreligionen, sondern auch die natürliche Moral sagt uns, daß es im Fall eines Angriffs auf uns, auf diejenigen, die uns lieb sind, oder auf irgendeine unschuldige und schutzlose Person natülich ist, daß man gewaltsam reagiert bis zur Eliminierung der Gefahr. Und wenn man den Widerstand als Modell einer „gerechten“ Gewalt anführt, meint man, daß angesichts eines Drucks, der durch die Gewalt eines andern ausgeübt wird, und angesichts einer unerträglichen Tyrannei die Rebellion des Volkes gerechtfertigt ist. Um alle Zweifel auszuräumen: Es ist gerechtfertigt, daß angesichts der Aggressivität eines Diktators die internationale Gemeinschaft mit Gewalt reagiert.

Das Problem entsteht beim Wort „Krieg“. Es ist eines jener Wörter wie „Atom“, das ja die griechische Philosophie gebrauchte und die zeitgenössische Physik gebraucht, allerdings mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen; einst war es ein unteilbares Korpuskel, heute ist es eine Gesamtheit von Teilchen. Wer Demokrit in Begriffen der Atomphysik lesen wollte, würde nichts verstehen — und umgekehrt. Und so gibt es — abgesehen davon, daß in beiden Fällen Menschen gestorben sind — auch zwischen den Punischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg sehr wenig Gemeinsamkeiten.

Gegen Mitte dieses Jahrhunderts hat sich ein Phänomen „Krieg“ abgezeichnet, das hinsichtlich der territorialen Ausweitung, der Resultate, der Kontrollmöglichkeiten, der Rückwirkung auf die Bevölkerung in anderen Teilen der Welt, sehr wenig mit den napoleonischen Feldzügen zu tun hat. Kurzum, wenn in der Vergangenheit die gerechtfertigte gewaltsame Reaktion gegen einen Rechtsbrecher die Form eines regelrechten Krieges annehmen konnte, ist heute ein solcher Krieg möglicherweise eine Form der Gewalt, die den Rechtsbrecher nicht in seine Schranken weist, sondern ihm entgegenkommt.

In den vergangenen 45 Jahren haben wir eine andere Form des gewaltsamen Containments erlebt: den Kalten Krieg. Schrecklich, übel, voll angedrohter oder lokal angewandter Gewalt ging man von der Vorstellung aus, daß ein regelrechter Krieg keinem der „Guten“ zu irgendeinem Vorteil gereicht wäre. Der Kalte Krieg war das erste Beispiel dafür, daß die Welt gemerkt hatte, daß das Konzept „Krieg“ sich geändert hatte, daß ein moderner Krieg nichts mehr mit den klassischen Konflikten zu tun hat, bei denen es am Schluß auf der einen Seite die Besiegten und auf der andern die Sieger gab (abgesehen von wenigen Grenzfällen wie den Siegen des Pyrrhus).

Wenn man mich Anfang Januar gefragt hätte, welche Form gerechter gewaltsamer Reaktion im Fall Saddam den regelrechten Krieg hätte ersetzen können, hätte ich geantwortet: ein sehr ernsthaftes, auch unerbittliches „kaltes“ Containment mit Grenzgeplänkeln, einem Kontrollsystem und einer Notgesetzgebung, nach der jeder westliche Industrielle, der Saddam auch nur eine Reißzwecke verkauft hätte, zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt worden wäre; im Verlauf eine Jahres wären seine offensiven und defensiven Technologien zum großen Teil unbrauchbar gewesen. Aber dazu ist es jetzt zu spät.

Der Verstand sagt uns, daß, wenn dich jemand mit dem Messer angreift, du das Recht hast, mindestens mit der Faust zurückzuschlagen. Aber wenn du Superman bist und weißt, daß du mit einem Faustschlag den Gegner auf den Mond beförderst, daß der Aufprall unseren Satelliten in Stücke sprengt, daß das Gravitationssystem „Tilt“ anzeigt, daß Mars mit Merkur kollidiert und so weiter, dann denkst du einen Moment nach — auch weil es ja sein könnte, daß die Katastrophe im Gravitationssystem genau das ist, was dein Gegner wollte, und was du ihm nicht zubilligen solltest.

Aus 'L'Espresso‘, 10.2.91; Übersetzung: thos