: Das Spiel-mich-nach-Spiel
Ein Bericht zur Theatersituation in Zürich ■ Von Gerhard Mack
Zürich ist eine der großen Drehscheiben des internationalen Kapitalverkehrs. Doch will die Schweizer Metropole auch sonst Weltstadt spielen. Fabrikation und Handwerk weichen den Bank- und Dienstleistungssektoren. Da braucht die Pelz- und Diamantenmeile am Bahnhof nicht nur zur Repräsentation nach außen ein anspruchsvolles kulturelles Pendant. Großveranstaltungen, die Verpflichtung internationaler Spitzenkünstler, aufsehenerregende Gastspiele tragen diesem Anspruch Rechnung. Jessye Norman gibt hier Gala-Konzerte, im vergangenen Sommer hatte Peter Brooks Sturm-Inszenierung noch vor den Bouffes du Nord in der Limmat-Stadt ihre Weltpremiere. Im Schauspielhaus am Pfauen brachte Peter Palitzsch die Uraufführung von Hauptmanns Christiane Lawrenz heraus; hier spielen Katja Paryla, Martin Benrath, Michael Rehberg und Friedrich-Karl Praetorius. Die Oper gehört, trotz mancher Flops, zu den ersten Häusern der Welt; hier inszenieren Jean-Louis Martinoty und Ruth Berghaus, Nikolaus Harnoncourt steht ebenso am Dirigentenpult wie Nello Santi, Karl Kamper und Marcello Panni.
First class culture als Import hat in Zürich Tradition: Die internationalen Julifestwochen, die seit einigen Jahren regelmäßig stattfinden, bringen die einstige Bedeutung der Stadt als Heimat von Intellektuellen und Künstlern in Erinnerung und feiern die obsolet gewordene Utopie einer freien Schweiz. Dieses Jahr steht das Werk von James Joyce im Mittelpunkt; vor zwei Jahren gedachte man unter dem Titel Zürich Transit der großen Zeit, als die Stadt den von den Nazis Verfolgten Exil gewährte und Brechts Provokation enthusiastisch beklatscht wurde, während die Klunker an den Händen funkelten und die Garderoben unter der Pelzlast ächzten. Internationales Flair und große Namen läßt man sich etwas kosten. Das Opernhaus hat einen Jahresetat von 50 Millionen, Achim Benning ist einer der teuersten Intendanten im deutschsprachigen Raum. Um den Tartuffe mit Michael Rehberg besetzen zu können, bezahlte man dem Vielgefragten den Dauerjet zwischen Hamburg, Wien und Zürich. Da mag sich mancher gefragt haben, ob unter dem fünfzigköpfigen Ensemble der Pfauenbühne niemand für die Titelpartie des nicht mehr ganz neuen Stücks in Frage gekommen wäre.
Als nach vierzigjähriger Amtszeit der Liberalkonservativen die Stadtregierung von den Sozialdemokraten übernommen wurde, blieb ihnen angesichts der zerrütteten öffentlichen Finanzlage nichts anderes übrig, als den Geldhahn fürs erste zuzudrehen. In der Stadt kam Sparstimmung auf, eine fünfprozentige Einsparauflage für alle Dezernate brachte das Schauspielhaus mit einer Million in die roten Zahlen. Intendant Benning drohte mit der Schließung der Studiobühne, was vorerst durch einen entsprechenden Zuschuß der Privatbank Leu abgewendet scheint.
Nicht alle haben so königliche Artgenossen. Besonders groß sind die Ängste bei den kleinen Bühnen und den freien Gruppen. Hier gibt es keine längerfristigen Subventionsverträge, Einsparungen sind dort am ehesten möglich. Zumal die Furcht vor einer Rezession, die der europäische Markt 1992 in der Schweiz auslösen könnte, Einigelungstendenzen fördert. Eine offene Theaterszene stört da eher, auf die verschiedenen Forderungen wird institutionell reagiert; so befürchten die freien Gruppen, daß ihre Ansprüche mit der Einrichtung des alternativen Theaterhauses „Gessnerallee“ abgegolten werden sollen und Gelder, die es bisher für konkrete Produktionen gab, in das neue Vorzeigeobjekt der Präsidialabteilung fließen.
Da finanzielle Kalkulationen, Bittgänge zu öffentlichen und privaten Geldgebern und niedrige Gehälter auch auf die kreativen Entfaltungsmöglichkeiten drücken, verwundert es immer wieder, daß man sich lediglich in der „Winkelwiese“, dem ältesten Kleintheater der Stadt, genötigt sieht, die Anzahl der Produktionen durch die Subventionskürzungen zu senken. Die Klage ums Geld hinterläßt den faden Beigeschmack, daß die ganze Aufgeregtheit das Fehlen eines eigenen inhaltlichen Profils zu verdecken hilft.
Die beiden renommiertesten Häuser der Szene, der „Neumarkt“ und die „Winkelwiese“, veranschaulichen die Situation. Wurde letztere vor 26 Jahren von der Kommunistin Maria von Ostfelden mit dem erklärten Ziel gegründet, die (west-)europäische Avantgarde ins konservativ erstarrte Zürich zu bringen, so erlebte das „Theater am Neumarkt“ seine große Zeit mit der Wiederentdeckung Horváths unter Horst Zahkl. Heute genießt die „Winkelwiese“ zwar noch ein alternatives Flair, wohl aber eher des schönen Kellerraums und der guten Jazzprogramme als des Spielplans wegen. Da wird der längst abgelegte pseudosozialkritische Vierteiler Family des Holländers de Boer in ganzer Länge abgespielt, da gibt's Labiches Rue Lourcine, Handkes Kaspar, Becketts Glückliche Tage und Büchners Woyzeck. Im Schauspielhaus gegenüber hätte Achim Benning das Gleiche spielen können. Kaum anders sieht es inzwischen im „Theater am Neumarkt“ aus. Hatte die neue Truppe um Gudrun Orsky in ihrer ersten Spielzeit außer Mrozeks Tango nur Ur- oder Schweizer Erstaufführungen im Programm, so startete man in die neue Saison mit Shakespeares Macbeth. Daß die kleine Guckkastenbühne dem mächtigen Stück eine eigene szenische Lösung abverlangte, ist eine dramaturgische Phrase, die nicht eingestehen will, daß die unangemessen harsche lokale Kritik während des Starts, die lancierten Falschmeldungen über eine drohende Schließung des Hauses und eine Platzausnutzung unter 50 Prozent tiefe Wunden hinterlassen haben. Becketts Warten auf Godot nach dem Tod des Iren noch einmal zu spielen und Frischs 80.Geburtstag mit dessen bemerkenswert veralteter Biografie zu begehen, setzt das Haus nach dem mutigen Anfang auf das Karussell der Schweizer Stadttheater, die sich im Wettbewerb „Spiel mich nach“ üben. Sicher ist es mit das Verdienst der beiden Bühnen, daß auch in Zürich die Grenze zwischen etabliertem und der eigenen Gegenwart entwachsenem Theater abgetragen ist. Das Schauspielhaus hat mit dem Keller ein eigenes Studio; gespielt werden Stücke von Bernhard, Dorst, Hochhuth, Tabori; Hürlimanns Der letzte Gast, Frischs Armeeattacke Jonas, Havels Sanierung und Friederike Kretzens Souffleuse erlebten unter Benning ihre Aufführung. Sicherlich, die Theaterszene heute ist differenzierter und das Angebot vielfältiger geworden. Das Publikum nutzt die Wahlmöglichkeiten, der Werbeaufwand um seine Gunst ist seit der Plakatoffensive der Benning-Mannschaft in die Höhe geschnellt. Machte das winzige Privattheater „Heddy Maria Wettstein“ in der letzten Spielzeit auf eine Beckett-Inszenierung Arnim Halters noch durch wöchentliche Kleinanzeigen in den beiden großen Tageszeitungen aufmerksam, so prangten kürzlich für die „Sommer“-Produktion des in Zürich ohnehin geschätzten Regisseurs selbst in den Industrievierteln ganze Plakatwände.
Dennoch können diese veränderten Zeichen der Zeit nicht darüber hinwegtäuschen, daß hinter dem Kampf um Subventionen und Zuschauergunst hausgemachte infights die thematische Auseinandersetzung oft in den Hintergrund gedrängt haben. So gab die freie Gruppe Coprinus die Arbeit an wichtigen Themen — man erarbeitete eine Trilogie zum Thema Krieg mit Stücken von Goethe, Bond und Barlach — für den Kampf mit dem Magistrat der Stadt und der Leitung der „Gessnerallee“ preis und konnte für eine gerade abgeschlossene Gorki-Produktion keine Spielstätte finden, obwohl das Projekt von der Stadt gefördert worden war. Federico Pfaffen, Leiter der Komedie, sagt offen, daß viele freie Theaterschaffende in Zürich ihre Ziele aus den Augen verloren hätten und die ohnehin weit fortgeschrittene Integration der „Kleinen“ in die etablierte Kultur energisch vorantreiben würden. Der aus dem Geist der Zürcher Jugendbewegung arbeitende Macher lacht verschmitzt auf die Frage, ob er denn keine Probleme mit seinem Raumtheater habe. Seine erfrischenden Inszenierungen in Baucontainern, Telefonkabinen oder einem alten Pornokino sprechen die Zuschauer an. Leonce und Lena im Freien, nicht als Lustspiel, sondern als todessehnsüchtiges, morbides Stück, war einer der Erfolge des diesjährigen Theaterspektakels.
Ein Symposium über das Verhältnis von Kultur und Staat in der Schweiz machte jüngst deutlich, warum sich derzeit Theater so schwer tun, die ein alternatives Selbstverständnis proklamieren: Die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Zürich benutzt heute andere Formen, das Theater ist kein Forum der Betroffenen mehr. Mitten in eine sonntägliche Diskussionsrunde über kulturpolitische Perspektiven platzten Vertreter des von der Schließung bedrohten soziokulturellen Zentrums „Kanzlei“ und forderten den Erhalt von Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten in einem sozialen Brennpunkt Zürichs. Dafür und für die anderen anstehenden Probleme der Stadt wie Drogen und Wohnungsnot brauchen die Betroffenen weniger die geistige Erschöpfung der Theater als die konkrete Hilfe der Politiker.
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