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„Von Anfang an europäisch diskutieren“

18 noch von der Volkskammer ins Europaparlament entsandte Vertreter der fünf neuen Bundesländer sind vom Bundestag als „Beobachter“ bestätigt worden/ PDS-Abgeordnete entscheiden heute, ob sie gegen den Verteilerschlüssel klagen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Das Palais d'Europe, die Arbeitsstelle der Europaparlamentarier verfügt über Zugangswege von einer Schönheit und Eleganz, die beeindrucken. Zum ausgewählten Menschengeschlecht derer, die — im Gegensatz zu Besuchern — direkt aus ihren Limousinen zu dem für sie reservierten Plenarsaal schreiten, dürfen sich seit Donnerstag letzter Woche auch die „Beobachter“ aus der ehemaligen DDR zählen.

Im Herzstück Europas, wo durch Reden und Richtlinien dem Ideal aller Gesellschaftsformen gehuldigt wird, wo der Begriff Demokratie seine praktische Erfüllung findet, dort haben die Ausgestoßenen nun endlich Aufnahme gefunden. Provisorisch zwar, wie alles demokratische in Europa, aber immerhin: 18 Vertreter des Volkes der fünf neuen Bundesländern können von nun an bis zu den Neuwahlen 1994 teilhaben an dem Streben nach einem geeinten Europa. Acht CDUler, fünf SPDler, zwei FDPler, zwei PDSler und ein Grüner/Bündnis 90, so beschloß es der für diese Frage zuständige Bundestag letzte Woche. Schon in den letzten Monaten war einigen von ihnen das Privileg vergönnt gewesen, von der Zuschauertribüne aus, Nachhilfeunterricht im elektronischen Abstimmen zu nehmen. Auch in Zukunft wird sich ihre Teilnahme an diesem Kernstück demokratischer Riten auf bloßes „Beobachten“ beschränken. Allerdings wurde ihnen nun das Recht verliehen, an „Begegnung und Austausch“ zwischen Europäern aktiv mitzuwirken — aus Gründen der Übersichtlichkeit jedoch nicht zusammen mit ihren Fraktionskollegen, sondern in einem gesonderten Ex-DDR-Abteil.

Höchste Erfüllung versprechen sich von dieser eigentlichen Parlamentsarbeit zumindest die, die in nervöser Erwartung der Bundestags- Entscheidung in der vergangenen Woche in Straßburg verweilten und zu Gesprächen mit dem Autor bereit waren. Denn es ist ja während dieser Arbeit, bei den „Sondersitzungen“, „Gruppentreffen“ und „Fraktionssitzungen“, wo die Konfrontation der Ideen und das Verschmelzen zu einem Konsens stattfinden. Darüber, so schwören die Neuen ausnahmslos, wollen sie keineswegs ihre in Armut und Hoffnungslosigkeit Hinterbliebenen vergessen. „Interessenvertretung“ heißt die Parole, „Struktur- und Sozialfonds“ ausreizen, „Übergangregeln nachbessern“. Der eurokratische Wortschatz geht ihnen bereits ähnlich locker von den Lippen wie ihren alteingesessenen KollegInnen.

Als „Schule des Politischen“ versteht der neue Europavertreter Sachsen-Anhalts, Ulrich Stockmann, das Europaparlament (EP). Mit den „Neulingen in der Politik, die wir ja jetzt im Landtag und im Bundestag haben“, will der SPD-Genosse „von Anfang an europäisch diskutieren, daß Entscheidungen auf regionaler Ebene auch immer gleich den europäischen Aspekt mit im Auge haben“. Schließlich „haben wir im Rahmen des Strukturprogramms in den nächsten drei Jahren sechs Milliarden DM für die fünf Bundesländer zu vergeben“. Die Sogkraft des EG- Budgets tut seine Wirkung: Die Identifizierung mit dem Gemeinschaftseuropa hat bereits stattgefunden — auch in der Sprache: „Operativpläne müssen jetzt hergestellt werden“, denn „kein Bürgermeister weiß, wie er an EG-Gelder herankommt“.

Auch anderen des Europa-Geschäfts Unkundigen verhelfen die Genossen zu Sinn und Geld. Der ehemalige Finanzminister Walter Romberg gehört jetzt zum Fähnlein der fünf sozialdemokratischen Aufrechten. Weil er in Bonn nicht wußte, was er tun sollte, lud ihn der EP-Vizepräsident Hans Peters nach Europa ein — ganz nach dem Motto: „Na, dann komm doch zu uns, haste wenigstens dein Auskommen.“ Ein regelrechter Wettbewerb scheint sich hier anzukündigen: Auch sein Kollege vom Bündnis 90, Hanns Ulrich Meisel, nennt die Beratung der Kommunen zu Hause als seine wichtigste Aufgabe. Und Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS will „als ursprüngliche Vertreterin der Ex-DDR auf die schwierige Situation im Osten Deutschlands hinweisen“. Die beiden haben bereits seit Mai Europaerfahrung sammeln können — als VertreterIn der Volkskammer im Europarat, dem ehrwürdigen Gremium, das von Straßburg aus Europas Menschenrechte überwacht.

Allen drei gemeinsam ist die Akzeptanz ihres Sonderstatus — Abgeordnete ohne Stimmrecht — Produkt der Angst vor einem deutschen Übergewicht im Europaparlament. „Verständnis“ haben sie für diese Zwitterlösung, denn wie unsensibel die deutsche Dampfwalze losplätten kann, haben sie am eigenen Leib erfahren. Sie gewinnen auch dem Schwatzbudencharakter des Parlaments noch Positives ab. So erhofft sich der ehemalige Geflügelzüchter und Studentenpfarrer Stockmann „mehr ungestrafte Diskussionen über den Sozialismusbegriff“. Und seine Kollegin von der PDS träumt davon, „die Befugnisse des EP zu stärken“.

Ihr fällt der schwierigste Part in dem neuen Stück „Demokratische Europa-Spiele“ zu. Anders als ihre KollegInnen hat sie „keine Partner aus dem deutschen Parteienspektrum, die uns mit offenen Armen aufnehmen“. Immerhin liegt eine Einladung vor: Die Grüne EP-Abgeordnete aus Berlin, Birgit Cramon-Daiber, möchte die zwei PDSler in die Grüne Fraktion integrieren. Sylvia- Yvonne Kaufmann hat jedoch schon „Signale bekommen, daß dies von der grünen Fraktion nicht getragen wird“. Als Alternative bleiben die beiden linken Fraktionen „Koalition der Linken“ und „Vereinigte Europäische Linke“. Eine Klage vor dem Verfassungsgericht steht im Raum: Die PDS hätte nach dem ursprünglichen Verteilungsschlüssel drei Abgeordnete ins EP entsenden können. Die vom Bundestag beschlossene Verteilung widerspricht ihrer Meinung nach den Abmachungen. Klagen oder nicht — dies will die PDS- Riege im Bundestag heute entscheiden.

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