: Tage in Chelsea
■ Eine Erzählung16
KULTURDONNERSTAG, 28.2.91
Ein Todesfall ist zu vermelden, wobei 'dpa‘ ein hübscher Freudscher Verschreiber unterlaufen ist: Gitta Alpar, Gesangstar der 20er und 30er Jahre, ist am 17. Februar im Alter von 87 Jahren im kalifornischen Palm Springs geboren, heißt es in der Meldung. An jenem Tag ist die Dame, wohl populärster Operettenstar vor Ausbruch des Dritten Reichs und ihrer damit verbundenen Emigration in die USA, natürlich verstorben, wohl aber ist sie vor 87 Jahren geboren worden. Wie heißt es? Werden und vergehen sind eins.
Berlinale-erschöpft (und film-überdrüssig? wieso?) verschieben wir die Besprechungen neu anlaufender Filme, die leider nicht bei den Filmfestspielen gezeigt wurden, wie etwa Woody Allens Alice und Carlos Sauras Ay, Carmela, oder noch eben in letzter Minute ins Programm geschoben wurden wie Peter Weirs Green Card (Scheinehe), auf kommende Woche. Dann möchten wir uns außerdem erholt und gut gelaunt mit Loriot bei Pappa ante portas amüsieren.
Festivalmüde werden sich bis dahin ausgeruht haben: vom 22. bis 29. Juni findet in diesem Jahr das Filmfest München statt. Angekündigt sind ungefähr hundert Spiel- und Dokumentarfilme aus 25 Ländern.
In Tübingen werden vom 12. bis zum 19. Juni Französische Filmtage stattfinden. Rund 50 Filme aus Frankreich, dem französischsprachigen Kanada und Afrika stehen auf dem Programm, das sich außerdem eine Gesamtretrospektive des Regisseurs Jacques Rivette vorgenommen hat. Senegal steht im Mittelpunkt der afrikanischen Filmreihe. Nähere Auskünfte beim Büro der Filmtage, Friedrichstr. 11, 7400 Tübingen, Tel. 07071 - 32828.
Der junge europäische Film steht im Mittelpunkt der dritten Filmschau Nürnberg vom 7. bis 10. März. Zwölf Filme aus zehn Ländern werden um den mit 5.000 Mark dotierten Sonderpreis konkurrieren. Abgerundet wird das internationale Programm durch Filme aus dem Tessin und aus Albanien, die jedoch außer Konkrurrenz laufen, sowie einer Werkschau mit Filmen des Schauspielers Bruno Ganz.
Gleich zwei Neuerscheinungen widmen sich dem Leben und Werk Friedrich Murnaus. Eines ist in der Hamburger „Reihe Film“ erschiene und enthält u.a. Beiträge von Fritz Göttler und Frieda Grafe (264 S., 38 Mark). Der AV-Verlag präsentiert das „Portrait Friedrich Wilhelm Murnau“ (238 S., 30 Mark) von Fred Gehler und Ulrich Kasten, das neben Bio- und Filmographie eine interessante Auswahl von Texten des Regisseurs selbst vorstellt.
Nach vier Jahren politischer Querelen und eineinhalbjährigem Umbau wird am 1. März die neue Spielstätte freier Theatergruppen in Frankfurt eröffnet. Das Freie Theaterhaus Frankfurt umfaßt 120 Zuschauerplätze. Das Projekt war noch unter der Ägide von Kulturdezernent Hilmar Hoffmann geplant worden, drohte aber unter der CDU-Regierung zu kippen. Die Programmgestalter des Theaterhauses sehen Veranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor.
von David Mamet
Es war im Jahr, bevor ich heiratete, und ich lebte allein auf einem Stockwerk in einem alten Mietshaus inmitten identischer, angebauter Häuser in New Yorks Chelsea-Viertel. Ich war den ganzen Winter über krank mit einer hartnäckigen Erkältung, die, zumindest teilweise, von meiner Einsamkeit herrührte. Doch ich genoß das Alleinsein auch.
Jeden Abend — in meiner Erinnerung war es jeden Abend, doch in Wirklichkeit kann es nicht so gewesen sein — führte ich mich selbst zum Abendessen aus in ein Restaurant an der 9th Avenue und saß allein an einem Tisch und las Romane.
Ich las das gesamte Werk von Willa Cather, Abend für Abend. Ich aß paniertes Irgendwas und verweilte dann bei Kaffee und mehreren Zigaretten, bis das Restaurant schloß.
Ich verdiente meinen Lebensunterhalt zum ersten Mal in meinem Leben als Autor. Ein junger Mann, Ende zwanzig, in New York, und zutiefst bewußt, eine romantische Zeit zu verleben.
Ich erinnere mich an einen Sonntag im Oktober, als ich meine Fenster putzte. Meine Wohnung hatte vier Fenster, und ich putzte sie ausführlich an einem kühlen, strahlenden Tag, glücklich wie ich nie vorher oder später je gewesen bin.
Ich erinnere mich an Abende vor dem Kamin. Ich hatte ein Bärenfell als Requisite in einem meiner Stücke in Chicago verwandt, und die junge Frau, die das Fell für die Aufführung hergeliehen hatte, tauchte später in New York auf und machte es mir zum Geschenk. Ich lag dann auf dem Fell vor dem Kaminfeuer und las, den Kopf an den Kopf des Bären gelehnt.
Als ich heiratete, nahm meine Frau an, daß ich zahllose Frauen auf diesem Bärenfell geliebt hatte, und sie legte mir nahe, das Fell zurückzulassen. Was ich auch tat. Ich hatte eine einzige Frau auf dem Fell geliebt — ein schönes und sehr kaltes junges Mädchen, das ich aus der Zeit kannte, als ich in Yale unterrichtete —, doch diese Geschichte werde ich später erzählen.
Ich liebte meine Wohnung über alles. Im Sommer saß ich abends zuhause mit einer Flasche Pouilly-Fuissé, so kalt, wie ich sie nur kühlen konnte, und dann trank ich und las. Der Wein war nicht teuer — damals waren französische Weißweine noch nicht in Mode —, und ich gönnte es mir.
Summa summarum, ich war mir selbst genug. Ich war ein unabhängiger junger Mann von Welt. Ich hatte ein Einkommen und eine Zukunft und war dabei, mir so etwas wie einen Namen zu machen.
* * *
Ich war einsam an den Wochenenden, und ich erinnere mich an verschiedene Straßenfeste, die ich auf der Suche nach der Frau meiner Träume durchstreifte, oder vielleicht auch nach einer anderen Version eines festen Zustandes.
An Wochentagen ging ich in den YMCA von Chelsea, um Sport zu treiben, oder ich joggte die West Side-Autobahn entlang.
Diese auf Stelzen gebaute Autobahn sollte abgerissen werden und war für den Verkehr gesperrt. Ich lief von der 23sten Straße aus den Hudson River entlang, und genau gegenüber den letzten verbliebenen Passagierschiff-Abfertigungshallen an der 54sten Straße kehrte ich um und lief zurück. Auf dem Rückweg lief ich gelegentlich mit einem Ozeandampfer um die Wette, der in den Fluß auslief, Richtung Süden. Wenn sie gerade erst die Fahrt aufnahmen, konnte ich mehrere hundert Meter weit mit ihnen mithalten.
Chelsea war ursprünglich ein Viertel für die Wohlhabenden aus der Schiffsbranche. Es wurde errichtet für und bewohnt von Schiffszubehörhändlern, Schiffsbauern, Kapitänen und anderen Mitgliedern einer respektablen Mittelklasse.
Die riesigen Landungsstege ragten zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt in den Hudson. Neunzig Jahre vor meiner Pachtzeit hätte der Bewohner meines Hauses aus dem Küchenfenster sehen und tatsächlich den „Wald von Masten und Sparren“ erblicken können.
Die „Titanic“, hätte sie je angelegt, hätte das buchstäblich am Ende der Straße getan, und die Reporter, die die Überlebenden auf der „Carpathia“ erwarteten, tranken in den Bars gleich um die Ecke.
Wenn ich auf der Autobahn in Richtung Süden joggte, lief ich an den riesigen, verlassenen Schuppen der Piers entlang, die für homosexuelle Begegnungen in Besitz genommen und der Schauplatz von viel Gewalt geworden waren.
Südlich davon hatte ich freien Blick auf die Freiheitsstatue, die ich nie betrachtete, ohne mir einen Teil des Gedichtes von Emma Lazarus aufzusagen, um mir die Zeit zu vertreiben und mich ein wenig tränenselig zu stimmen. Und nie erblickte ich die Statue ohne das Gefühl, privilegiert zu sein, solch regelmäßigen Zugang zu ihrem Anblick zu haben.
An der 11th Avenue war und, wie ich hoffe, ist immer noch Madison's Männerladen, Melvin Madison, Eigner/Besitzer.
Ich wurde von der äußerst robusten Arbeitskleidung im Schaufenster in den Laden gelockt, die neben Zubehör faktisch ausgestorbener maritimer Gewerbe drapiert war — Insignien, Uniformen und so weiter. Ich freundete mich mit Melvin an, und er erlaubte mir, mich einfach so in seinem Laden aufzuhalten, und wir unterhielten uns dann über dies und jenes und tranken Kaffee.
Der Laden war schon viele Jahre unter seinem Kommando. Er hatte eine recht ansehnliche Menge alter, unausgepackter, unverkaufter, hervorragender, strapazierfähiger und ungewöhnlicher Arbeitskleidung auf Lager. Jacken und Kappen aus den vierziger Jahren, Hosen und Schuhe von einer Langlebigkeit, die heute unvorstellbar ist.
Ich hatte einmal einen Teil eines Sommers damit verbracht, als Koch auf einem der Erzkähne der Großen Seen zu arbeiten, so daß ich tatsächlich ein — wenn auch höchst kadettenhaftes — Mitglied der Handelsmarine war, und Melvin erzählte mir Geschichten aus seinem Leben auf den Schiffen und aus seinem Leben in diesem Viertel.
Einige Jahre, bevor ich in Chelsea wohnhaft wurde, hatte ich eine kurze Zeit um die Ecke von Melvins Laden damit verbracht, regelmäßig den Heuerschuppen der Nationalen Maritimen Gewerkschaft aufzusuchen, um — vergebens — zu versuchen, mit einem Schiff auszufahren.
Mel und sein Laden waren ein Mittelpunkt sowohl der Romantik wie auch der Behaglichkeit in südlicher Richtung meiner Wohnung. Gen Norden befand sich das Chelsea- Schreibwarengeschäft, ein weiteres Wahrzeichen des Viertels. Leiter und Besitzer war Ken Strum.
Ken und sein Vater Max vor ihm waren seit dreißig Jahren an derselben Stelle ansässig, und auch sie hatten „Alte Lagerware“ im Keller.
ich kaufte alte Zeugniseinbände aus den dreißiger Jahren, auf die glückliche, mit erhobenen Knien marschierende Footballspieler gedruckt waren, alte Stifte und rechtsgenormt wirkende unbedruckte Bücher, um in ihnen zu schreiben. Und wir schnorrten, da entweder Ken oder ich gewöhnlich dabei waren, den Zigaretten abzuschwören, blauen Dunst voneinander und sprachen über Frauen wie auch über seine Abenteuer in seinem Gemeindetheater in New Jersey.
Das Schreibwarengeschäft war mein erster Anlaufpunkt, wenn ich zu Fuß aus dem Sportzentrum zurückkam.
Wenn ich aus dem YMCA heraustrat, blickte ich auf das Chelsea-Hotel, das schon lange als literarischer Markstein New York Citys gepriesen wurde.
* * *
Das Chelsea war für Thomas Wolfe und für Dylan Thomas ein Zuhause gewesen und für Brendan Behan und andere Dichter, die zweifellos von deren Residenz dort angezogen wurden. Ich hatte, als ich zum ersten Mal New York besuchte, selbst dort einige Nächte verbracht — als sehr junger Mann, zutiefst verängstigt von dem Dreck und der Gewalt und dem Lärm. Das Hotel war die Verkörperung New Yorks für mich. Nichts in meiner Erfahrung als Angehöriger der Mittelklasse in Chicago hatte mich auf dieses Hotel vorbereitet. Es war nicht so sehr, daß es sich der Romantisierung entzog, daß es dreckig und gefährlich war, sondern daß es sich als kulturelles Wahrzeichen nicht nur darstellte, sondern auch akzepiert wurde, sowie als gute Wahl für einen ernsthaften Künstler, der ein Zimmer suchte.
Und jedermann wies einen darauf hin, daß Virgil Thomson immer noch dort lebte.
Ich traf Virgil Thomson um die Ecke vom Hotel, in einem anderen meiner regelmäßig frequentierten Geschäfte auf dem langen Fußmarsch zurück vom YMCA. Ich traf ihn in Dr. Herrmanns Optometrischem Etablissement.
Louis Herrmann war ein exzellenter Augenarzt und, er ruhe in Frieden, ein wahrer Liebhaber des Theaters. Er war der Bruder von Bernard Herrmann und war als Kind tatsächlich mit Bernard während Orson Welles Krieg-der-Welten-Sendung in den Studios gewesen. Ich habe nie jemanden liebevoller über etwas reden hören, als Louis über seinen Bruder Bernard sprach.
Er ließ Erinnerungen lebendig werden an das Mercury Theatre, an Orson Welles, an Bernard und Hitchcock, wir sprachen übers Theater; oft arbeitete seine Frau Ruth im Büro, und wir tranken dann zusammen Kaffee.
Er muß damals Anfang sechzig gewesen sein, und es war eine Offenbarung für mich, ihn mit seiner Frau zu sehen, zwei Leute, die dreißig oder vierzig Jahre verheiratet waren und so offensichtlich ineinander verliebt. Er war ein wunderbarer Mann.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße von Louis gab es den Flickschuster, zu dem ich zum Schuheputzen ging. Dieser Laden nimmt einen prominenten Platz in meiner Mythologie von Chelsea ein, was er dem unten wiedergegebenen verbalen Abtausch verdankt.
Eines Tages war ich mit Shel Silverstein spazieren, den ich als Zeuge für diesen unglaubwürdigen Wortwechsel berufe.
Mir war ein Riemen an meiner ledernen Umhängetasche gerissen, und ich betrat die Flickschusterei, um ihn reparieren zu lassen. Der Besitzer betrachtete sich die Tasche ausführlich und zuckte dann mit den Schultern. „Wieviel für die Reparatur?“ sagte ich.
„Das wird Sie zwanzig Dollar kosten“, sagte er.
„Zwanzig Dollar?“ sagte ich. „Nur um einen Riemen ...?“
„Nun, ich komm' da nicht dran“, sagte er. „Ich komm' da mit meiner Maschine nicht hin, ich muß die Tasche auseinandernehmen, alles Handarbeit, dazu braucht ein Mann zwei, drei Stunden, um das zu erledigen.“
Und so seufzte ich. „Also in Ordnung“, sagte ich. „Wann kann ich sie abholen? Donnerstag? Freitag ...?“
„Neee“, sagte er, „gehen Sie einen Kaffee trinken — kommen Sie in zehn, fünfzehn Minuten wieder.“
Etwas weiter die Straße hinunter vom Schuster war Kenny Fish. Ken hatte ein Möbelgeschäft. Er kaufte und restaurierte und verkaufte Grand Rapids-Eichenmöbel. Er war ein überdurchschnittlicher Handwerker, und er bewies guten Geschmack in dem, was er ankaufte. Er war auch ein überaus angenehmer Gefährte, und ich verbrachte viele Stunden auf meinen Spaziergängen nach Hause bei ihm mit Romméspielen. Er war der schlechteste Romméspieler, den ich je getroffen habe; und mein Zu
Fortsetzung nächste Seite
Arm und doch reich in New York — Blick aus dem Fenster auf das Empire State Building Foto: Henrik Vering
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen