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Der unerklärte Krieg

■ Imperialistische Neuformierung — schmutzige Hilfe EUROFACETTEN

Die Türkei, die offiziell keinen Krieg erklärt hat, hat schon 875 Iraker auf dem Gewissen. Ich habe eine grobe Berechnung angestellt. Bis zum 35. Tag des Golfkrieges wurden 3.500 Einsätze vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus geflogen. Also vier Prozent der insgesamt 80.000 Einsätze der Allierten. Bei 20.000 Irakern, die dabei insgesamt starben, kommt man auf einen Anteil von 875 für die Türkei. Wir haben 875 unschuldige Menschen in einem nicht erklärten Krieg, den 88 Prozent der türkischen Bevölkerung ablehnen, umgebracht. Wir teilen die Verantwortung für diese Morde mit den US-Amerikanern. Für wen? Warum? Für die neue Weltordnung des US-Präsidenten Bush. Der unstabile Nahe Osten wird entsprechend der Vorstellungen des Westens neu aufgeteilt. Der Westen wird die Ökonomie, die Politik, die Verwaltung nach dem Vakuum, das die Sowjetunion in der Region hinterlassen hat, im imperialistischen Sinne neu formieren. Wie wunderbar, wenn von der Nachkriegsmahlzeit der westlichen Wölfe auch etwas für die arme Türkei und für die landlosen Palästinenser plus Kurden abfällt. Jeder Held hat seine eigenen Visionen. Der türkische Staatspräsident Özal ist bemüht, die Kurden von der Neuordnung auszugrenzen. Israel versucht das seine mit den Palästinensern. Die Engländer wiederum fühlen sich bemüßigt, die Befreier der Kurden zu spielen. Jenes England, das seine Tore für die kurdischen Peschmerga, die 1988 aus dem Irak in die Türkei flohen, schloß. Die Franzosen und die Italiener waren ein wenig zurückhaltender. Deutschland verwies auf verfassungsrechtliche Probleme und erklärte sich nur zu materieller Unterstützung für den Krieg der Amerikaner bereit. Hinterher konnten sie sich nicht mehr zurückhalten und schickten ein paar hundert Bundeswehrsoldaten und die Roland-Raketen.

Im Südosten der Türkei, in Grenznähe zum Irak, leben rund fünfzehn Millionen Menschen. Ohne Luftschutzbunker, ohne Gasmasken, ohne Schutz vor chemischen Waffen. Der Irak hat die Türkei nicht angegriffen, trotz der 875 Menschen, für deren Tod wir verantwortlich sind. Hätte es dem Westen etwas ausgemacht, wenn die Türkei angegriffen worden wäre? Ein dänischer Rechtsprofessor, sehr um die Verteidigung der Menschenrechte bemüht, tröstete mich vor einiger Zeit: „Die Türkei ist Bündnispartner des Westens und daher gezwungen, sich für die Sache aufzuopfern. Wenn es hier in der Türkei Krieg gibt, wird er nur die südöstlichen Gebiete berühren. Und das ist von dir, von Istanbul sehr, sehr weit weg.“ Semra Somersan

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