: Eine faire Chance wird nicht gewährt
■ Ostdeutsche Betriebsräte klagen Treuhand an: Wettbewerbsfähigkeit wird verhindert und nicht gefördert
Bonn(taz) — Viel ist es nicht, was der Betriebsrat der Schraubenfabrik Chemnitz stellvertretend für seine Kollegen verlangt: „Eine faire Chance, sich auf die Marktwirtschaft einzurichten“. Doch diese Chance werde ihnen von der Bundesregierung und der Treuhand nicht zugestanden, darin waren sich die Betriebsräte aus zehn Großbetrieben mit derzeit noch 33.000 Beschäftigten einig. Sie kamen auf Einladung der PDS nach Bonn: nicht, weil man der PDS nahestehe, sondern weil man angesichts der dramatischen Situation jeden Strohhalm ergreife, sagte einer.
Statt eine wirkliche Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu entwickeln, verhindere die Treuhand dies gerade. Die Treuhand orientiere sich ausschließlich an kurzfristiger Rentabilität. Unternehmen würden „mutwillig zerstört“. Drei bis fünf Jahre aber benötige es auch bei überlebensfähigen Betrieben, sich umzustrukturieren und schwarze Zahlen zu schreiben. Bitter beklagten die Gewerkschafter, daß in Westdeutschland ganze Wirtschaftszweige und Betriebe jahrelang unterstützt werden, während in Ostdeutschland auch erfolgversprechende Sanierungskonzepte von der Treuhand verworfen werden. So berichteten Betriebsräte der Filmfabrik Wolfen, daß ein selbst in Auftrag gegebenes Konzept einer westdeutschen Unternehmensberatungsfirma von der Treuhand nicht akzeptiert wird, weil es drei Jahre dauern würde, eine wettbewerbsfähige Neuproduktion aufzubauen. Dabei plant auch die Filmfabrik, deren 11.500 Mitarbeiter fast alle kurzarbeiten, den Abbau von nahezu 9.000 Arbeitsplätzen.
Notwendig sei vor allem der Erlaß der Altschulden der Betriebe. Diese seien schließlich entstanden, weil alle Gewinne an den Staat abgeführt werden mußten und deshalb auch hochproduktive Betriebe für Neuinvestitionen Kredite aufnehmen mußten. Es sei ein „Skandal, ein neues Wirtschaftssystem einzuführen, aber gleichzeitig zu sagen, die in einem ganz anderen Wirtschaftssystem entstandenen Schulden behaltet ihr“, vertritt der PDS-Vorsitzende Gysi. Chancengleichheit könne außerdem nur über eine zeitweilige Besserstellung geschehen.
Die Betriebsräte fordern neben der Modernisierungsförderung durch Mittel der Treuhand finanzielle Hilfen, um die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in den ostdeutschen Betrieben zu erhalten. Öffentliche Aufträge müßten in die neuen Bundesländer vergeben werden. Dadurch könnte im Rahmen der ökologischen Altlastsanierung in Ostdeutschland ein neuer Wirtschaftszweig entstehen. Finanziert werden soll die Modernisierung der Betriebe durch eine Investitionsabgabe westdeutscher Unternehmen. Außerdem sollten neben den Länderregierungen auch die Belegschaften ein Mitspracherecht bei den Treuhand-Entscheidungen bekommen.
Für ihre Forderungen hoffen die Gewerkschafter auf ihre Belegschaften. Eine Protestdemo vor der Treuhandanstalt habe Wirkung gezeigt, glaubt ein Betriebsrat vom Flughafen Schönefeld. Bonn sollte die Geduld der DDR-Bevölkerung nicht überschätzen, wurde gewarnt: Wenn sich nichts ändere, sei auch ein Sternmarsch von drei Millionen Arbeitslosen auf Bonn nicht ausgeschlossen. Gerd Nowakowski
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen