Und wenn sie nicht gestorben sind...

Foto: Wolfgang Böhmer

...dann leben sie noch heute. — So oder ähnlich enden die meisten Märchen der Gebrüder Grimm. »Happy end« gleich »open end«: wie sich für Prinz und Prinzessin das weitere Dasein gestaltet, erfährt der Leser nicht. Höchstens von Robert Walser. Er setzt da ein, wo die Gebrüder Grimm aufhören. Und zerstört unsere Illusionen vom ungetrübten Glück der Märchenhelden. »Schneewittchen« und »Dornröschen« — das Walser-Ensemble küßt sie wach und zeigt in aufregenden 90 Minuten, was aus ihnen wird.

Schneewittchen (Eva Mannschott) ist gar nicht glücklich. Sie lebt wieder am Hof ihres Vaters und versucht, einen neuen Anfang zu finden. Ihrer Stiefmutter (Nela Bartsch) möchte sie gern verzeihen und vertrauen. Doch das will ihr aus eigener Kraft nicht gelingen. Wen wunderts, denn immerhin hat diese mehrfach versucht, sie umzubringen. Der Jäger (Robert Christen) schaltet sich ein und vermittelt, eifersüchtig beobachtet vom Prinzen (Roland Strehlke), dem einstigen Retter Schneewittchens.

Die Figuren dieser Geschichte werden zwischen den Polen Haß (Angst?) und Liebe hin- und hergerissen, kein Verhältnis ist eindeutig, alle tasten mehr oder weniger im Dunkeln. Jeder mißtraut jedem. Ein langer Prozeß beginnt, Szene für Szene versuchen sie, einander näherzukommen. Aussichtslos erscheint dieses Unterfangen. Düster sind die Gemüter, und in düstrem Licht liegt die Bühne. Nur punktuell werden die Darsteller angeleuchtet. Wunderschön traurig wirkt dieses Licht von Martin Oestreich, immer passend, nie zu viel und nie zu wenig. Am Ende wird es dann heller, die Katharsis setzt ein: kein beschwingtes Happy End zwar, kein lautes Lachen und Tanzen, sondern stiller Friede, der das Leben der Märchenfiguren fortan bestimmen wird. Der König (Oliver Marlo), vorher nur heimlicher Beobachter, holt nun seine Familie von der Bühne.

Nach der Pause ist auf einmal alles anders. Auf seinen Platz zurück darf der Zuschauer nicht: der Hofstaat von Dornröschen macht es sich dort bequem und — schläft. Erst, als Dornröschen wachgeküßt wird, recken und strecken sich auch die Gefolgsleute. Und jetzt beginnt eine aberwitzige Komödie, eine Parabel auf dieses und jenes und vor allem auf die Wiedervereinigung.

Dornröschen (Robin Gooch) in rotem Kleid, mit Dornen versehen, ist nicht besonders glücklich über ihren Prinzen. Etwas ansehnlicher hätte er ruhig sein können, und zu bieten hat er ihr auch nichts. Der Hofstaat meckert. Im »Hundertjährigen Schlaf« war manches einfacher für sie. Doch der Prinz lächelt nur: es gibt keine Alternative! Er selbst schwebt über den anderen, angegurtet mit einer Sicherheitsleine, den Schutzhelm auf, und besteht auf dieser Heirat.

So still und ruhig die erste Hälfte der Vorstellung war, so turbulent geht es in der zweiten zu. Dornröschen singt, der Hofstaat tanzt, der Zuschauer steht. Und amüsiert sich.

Selten wird man wie an diesem Abend von der ersten bis zur letzten Minute so gefangengenommen. Ulrich Simontowitz inszeniert die Märchenadaptionen, ohne auch nur eine Kleinigkeit zu vernachlässigen. Es stimmt einfach alles: die Bühne von Peter Knoch, die Kostüme von Stephan Dietrich und die Besetzung harmonieren ohne jeden Mißton. Ein Kleinod der Theaterszene, das einen auch noch Tage später nicht loslassen wird. Anja Poschen

Das Walser Ensemble spielt »Schneewittchen« und »Dornröschen« am Samstag, Sonntag und Montag um 20.30 Uhr und danach donnerstags bis montags bis zum 17.März im UbU-Theater.