Die Große Depression 1991 überrascht Millionen kalt

■ Massenarbeitslosigkeit wie in den 20er Jahren/ 1. Juli „schwärzester Tag“ im Leben von Millionen Ostdeutschen/ Rohwedder: „Der Schleier ist weg“

Berlin. Für Millionen Menschen in den neuen Bundesländern wird der 1.Juli 1991 zum „schwärzesten Tag“ in ihrem Leben. Nach zehn, 20 oder gar 30 Arbeitsjahren, oftmals im selben Betrieb, stehen sie dann arbeitslos auf der Straße.

„An diesem Tag wird es allein in Thüringen 1,2 Millionen Arbeitslose geben“, sagt der DGB-Landesbeauftragte Wolfgang Erler. Die Betriebsratsvorsitzende der Erfurter Elektronikfirma ermic GmbH, Nowak, klagt: „Man kann doch nicht die ganze Region in diese Teufelssituation bringen, daß die Zahl der Arbeitslosen bald an die der schlimmen Jahre vor 1933 heranreicht.“ Auch Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf warnt vor einer „dramatischeren Entwicklung als zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 20er Jahren“, und befürchtet eine Arbeitslosenquote von 30 bis 40 Prozent für sein Bundesland. Die Industriegewerkschaft Chemie rechnet mit „der höchsten Massenarbeitslosigkeit von 30 bis 40 Prozent“ in den fünf neuen Ländern und Ostberlin. In Mecklenburg-Vorpommern liege die Arbeitslosenquote schon heute mit knapp elf Prozent erheblich über dem Bundesdurchschnitt. Der DGB- Landesbezirk prognostiziert für Berlin und Brandenburg eine halbe Million Arbeitslose. „Ich habe den Eindruck, daß die wahre Dimension überhaupt noch nicht erkannt ist“, sagt der Personalchef des Werkes für Fernsehelektronik in Berlin-Köpenick, wo von ehemals 9.400 Beschäftigten am 1. Juli noch 2.300 übrigbleiben.

Das Desaster der DDR-Wirtschaft

Ende Januar wurden für Ostdeutschland über 750.000 Arbeitslose und fast zwei Millionen Kurzarbeiter gemeldet. Zur Jahresmitte wird sich diese dramatische Situation vor allem durch zwei Faktoren noch erheblich verschärfen. Am Montag, dem 1. Juli läuft nämlich die im Einigungsvertrag festgelegte „Warteschleife“ für ehemalige Staatsbedienstete aus. Und der vor einem Jahr tariflich vereinbarte Kündigungsschutz für Beschäftigte in Ostbetrieben läuft aus. In der sogenannten Warteschleife harren mehr als 700.000 Beschäftigte der Verwaltung aus, die zwar jetzt schon nichts mehr zu tun haben, aber bis zum 30.Juni noch 70 Prozent ihrer Gehälter beziehen. Dann sitzen sie ohne Arbeit und Einkommen auf der Straße. Und mit dem Ende des Kündigungsschutzes werden Hunderttausende ihren Arbeitsplatz in den zahlreichen Pleitefirmen des Ostens verlieren. Auch viele der zwei Millionen Kurzarbeiter wird es treffen, die jetzt schon nur noch „Null-Stunden“ schaffen. Der bisher zum Kurzarbeitergeld bezahlte Zuschuß von bis zu 22 Prozent, der ihnen jetzt noch fast 90 Prozent ihres ehemaligen Nettoeinkommens garantiert, fällt dann weg. Die „Abwicklung“ — wie Stillegungen und Entlassungen im Bürokratendeutsch genannt werden — der ehemaligen DDR-Betriebe und ihrer Arbeitskräfte macht vor keinem Bereich halt: ob Autowerke, Werften, Chemieindustrie oder gar die sogenannten Zukunftsbranchen wie Computertechnik und Mikroelektronik. „Der Schleier, der so wohltätig das Desaster der DDR- Wirtschaft bedeckt hat, wird weggezogen“, resümiert Treuhand-Chef Rohwedder, dessen Haus eigentlich mit der schnellen Privatisierung der Staatsbetriebe das Schlimmste verhindern soll. Auch „Weltfirmen mit Weltnamen haben die größten Probleme“, begründet Rohwedder den Niedergang. Eine endlose Liste könnte man aufstellen. In Eisenach wird zu Lasten von über 6.000 Arbeitern kein Wartburg mehr vom Band rollen. Das ehemalige DDR-High- Tech-Kombinat robotron, Hersteller von Büromaschinen und Computern, muß die Hälfte seiner 13.000 Mitarbeiter abbauen. Beim Renommierunternehmen Carl Zeiss in Jena sind Tausende von Arbeitsplätzen in Gefahr. In den Chemiewerken Buna rechnet die Hälfte der 15.000 Beschäftigten mit ihrer Kündigung. Im Kalibergbau werden bald 15.000 Kumpel nicht mehr in die Gruben einfahren, und auf den Werften in Mecklenburg-Vorpommern bleiben von ehemals 57.000 Beschäftigten vielleicht noch 20.000 in Lohn und Brot. S. Knauer-Runge ap