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"Nächtliches Indien" von Alain Corneau

■ Verschwinden in Taubenschwärmen

Lightyears away von Alain Tanner war so ein Film. Auch Nächtliches Indien von dem französischen Regisseur Alain Corneau hat diese seltsam berauschende Wirkung, ein diffuses Gefühl zwischen Träumen mit offenen Augen und einem wohligen Schwindel. Ich kann mir das nur mit den Endorphinen erklären, die da in mir verrückt spielten.

„Xavier verliert sich in Krankensälen voller Elend, in Bahnhofshallen, deren Boden bedeckt ist mit Schlafenden...“

Was war passiert? Knapp zwei Stunden reist ein Franzose portugiesischer Abstammung durch Indien. Zuerst ist er in Bombay, dann in Madras, zuletzt in Goa. Xavier Rossignol (Jean-Hugues Anglade) ist auf der Suche nach einem Jugendfreund. Die Suche wird ergebnislos enden, weder Xavier noch wir ZuschauerInnen werden den Mann zu Gesicht bekommen.

Dafür sind wir Zeugen einer Reise durch einen fremden Subkontinent, der bis zum Ende geheimnisvoll bleibt. Regisseur Corneau hat es fertiggebracht, allein mit Bildern auszudrücken, daß auch im Film der Weg das Ziel sein kann. Die Suche endet im Nichts, während die Spannung stetig zunimmt.

Xavier ist ein gewöhnlicher Reisender. Er kennt die ihm fremde Kultur Indiens nicht, er ist vorsichtig. Seine Unsicherheit überträgt sich schleichend in den Kinosaal. Taxifahrern, die ihn übers Ohr hauen wollen, kann er sich nicht widersetzen, und einer jungen Prostituierten, von der er sich Hilfe erhofft, begegnet er mit solcher Vorsicht, daß die zarteste Berührung wie eine Explosion wirkt.

Immer ist die Kamera auf Xavier gerichtet, jedes Zucken wird registriert. Das filmische Auge folgt dem Rastlosen wie ein Schatten durch Räume, über Plätze und Straßen. Xavier verliert sich in Krankensälen voller Elend, in Bahnhofshallen, deren Fußboden mit schlafenden Menschen bedeckt ist, und in Taubenschwärmen, die er eiligen Schrittes aufzusprengen scheint.

Seine Zufallsbekanntschaften lösen ihn immer mehr von seinem eigentlichen Ziel, der Suche. Der Arzt im Krankenhaus zeigt ihm, wie wenig westliche Denkweisen in Indien weiterhelfen. Ein Brahmane läßt den verstörten Franzosen mit kalter Arroganz stehen, und eine erschreckend mißgestaltete Hellseherin stößt mit ihrer Weisheit bei ihm auf pure Ratlosigkeit.

Nächtliches Indien ist die Verfilmung eines Romans von Antonio Tabucci (“Indisches Nachtstück“). Die Faszination der Bilder Corneaus, dieses rauschhafte Gefühl ist wie ein Beweis für die potentielle Kraft des Kinos. Jürgen Francke

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