Der führbare Krieg

■ Nach 43 Tagen „Wüstensturm“ wird Bilanz gezogen DEBATTE

„Aber wenn der Krieg aus ist, sind alle wieder da — oder fehlt einer?“ Die Frage von Ernst Jandl wird jetzt von Irakern und Amerikanern zu beantworten sein. Wenn der Krieg aus ist, werden die letzten Leichen aufgesammelt, auf Lastwagen verladen und abgezählt. Und zum letzten Mal werden die Zahlen der Toten, je nach propagandistischem Kalkül, nach oben oder unten manipuliert und veröffentlicht. Wie viele wirklich gestorben sind, wird niemand erfahren. Aber wie hoch die Zahl der Opfer auch sein mag, sie wird die Legitimation dieses Krieges nicht mehr erschüttern können.

Nach 43 Tagen „Wüstensturm“ scheint die Rechnung der Sieger voll aufgegangen zu sein: der Krieg als ein jederzeit berechenbares, begrenzbares und für die eigenen Truppen risikoarmes Unternehmen. Kreuzfidel klettert der Pilot aus seiner F 16 und gibt zu Protokoll: „Ich habe mich richtig wohlgefühlt da oben.“ Krieg als Spaziergang?

„Kriege sind in diesem Jahrhundert nicht mehr führbar,“ hatte die Friedensbewegung immer wieder argumentiert. In diesen Tagen, wenn Europa und Amerika die Bilanz des Waffenganges ziehen, wird ihr hundertfach das Gegenteil bewiesen werden. Und diejenigen, die gegen diesen Krieg auf die Straße gegangen sind, werden sich erschrocken dabei ertappen, wie sie nach einer möglichst hohen Opferzahl schielen als Bestätigung für ihre These. Das ist die schlimme, schiefe Logik dieses Krieges.

Der Mythos der viertstärksten Armee

Aber Tatsache bleibt: Bei den pausenlosen Luftangriffen auf irakische Städte sind nicht mehr amerikanische Soldaten umgekommen, als bei den Manövern und Vorbereitungen für diesen Krieg. Der Mythos von der irakischen Armee als der viertstärksten der Welt tritt hier besonders deutlich hervor. Ohne nennenswerte Gegenwehr konnte das Land des Aggressors ins Mittelalter zurückgebombt werden. Die militärische Stärke Saddam Husseins ist ganz offenbar völlig falsch eingeschätzt worden. Und dennoch sind die immer wieder beschworenen Bedrohungspotentiale Saddams, bis hin zu seiner legendären Superkanone, eine der wichtigsten Gründe für die militärische Eskalation gewesen.

Entscheidend für die Bewertung dieses Krieges sind die Opfer auf Seiten der internationalen Streitkräfte. Allein die Perspektive des Siegers zählt. Selbst 100.000 tote Iraker haben die Schlacht nicht beenden können, aber 1.000 tote US-Soldaten hätten vermutlich ausgereicht, um die Führbarkeit dieses Krieges infrage zu stellen. Auf der Skala der öffentlichen Betroffenheit des Westens wiegt ein toter Sohn Amerikas soviel wie 100 Muslime. Die mehrfache Betonung, daß die gefangengenommenen irakischen Soldaten verlaust und halbverhungert in ihren „Erdhöhlen“ (!) saßen, werden die Achtung vor diesen Menschen ebensowenig erhöht haben wie die Bilder von Irakern, die sich im Sand um ein Butterbrot balgten, das ihnen ein US- Soldat ungerührt hingeworfen hatte. Fütterung der Erdhöhlenbewohner vor laufender Kamera.

Befreiung durch Zerstörung

Die irakischen Opfer, die schweren Zerstörungen in Bagdad und Basra sind in der Rechnung vom führbaren Krieg nicht enthalten. Und vermutlich werden auch die Bilder der kuwaitischen Trümmerwüste kaum zu einer nachträglichen Legitimationskrise führen. Auch wenn hier für jeden unübersehbar wird, daß dieser Krieg die Befreiung des Scheichtums nur um den Preis seiner gleichzeitigen Zerstörung erreicht hat. Genauso, wie dieser Krieg Unrecht nur um den Preis eines womöglich noch größeren Unrechts verhindert hat. Nur weil dieses Unrecht jetzt nicht wahrgenommen wird, weil die 100.000 toten Iraker hinter der Maske der strahlenden Eroberer mit ihren schaurigen Victory-Zeichen verschwinden, ist es noch lange nicht ungeschehen.

Führbar war dieser Krieg für die internationalen Streitkräfte vor allem durch die neuen intelligenten Waffensysteme. Laser-, Video- und Computerwaffen, die ihre Ziele selbst suchen, Raketen und Flugzeuge, die auf keinem Radarschirm mehr auftauchen: Für die Rüstungsfirmen und kalten Krieger war dies wie eine nachträgliche Absolution nach jahrelangem innenpolitischen Streit um die Rüstungshaushalte. Eindrucksvoll demonstrierten die neuen Waffen die technisch-kulturelle Überlegenheit des High-Tech- Westens gegenüber einem „rückständigen islamischen Schwellenland“. Zugleich wurde dieser Krieg auch für jedes andere Land zur Lektion amerikanischer Vorherrschaft.

War dieser Krieg angesichts der ökologischen Folgen verantwortbar und führbar? Das Risiko der Katastrophe wurde bewußt in Kauf genommen, die Berechnungen der Klimaforscher lagen auf dem Tisch. Doch die Logik des Krieges kannte kein Zurück, vor allem da die absehbaren ökologischen Folgen wie die weitere Zerstörung der Ozonschicht und die Veränderungen des Klimas als wissenschaftlich abstrakte Größen nicht unmittelbar wirksam werden. Krieg kann auf die Beschädigung des Planeten nur sehr wenig Rücksicht nehmen. Krieg ist Zerstörung.

Die Verheerungen dieser 43 Tage sind gigantisch, das menschliche Elend bleibt unbeschreiblich. Die materiellen Verluste werden in Billionen zu beziffern sein. Während in Irak und Kuwait von den Alliierten täglich eine Milliarde Dollar in die Zerstörung dieser Länder investiert wurde, haben Hunger und Armut in vielen Teilen der Erde neue Kriege vorbereitet. Auch dies ist eine Realität des Golfkrieges, die in keiner Bilanz auftauchen wird. Die einfache Wahrheit, daß Krieg überall tötet, wird von den Siegesfeiern der heimkehrenden Soldaten übertönt. Von der Heldensaga der tapferen Eroberer Kuwaits erstickt, einem modernen Märchen aus tausendundeiner Nacht.

Vor allem aber war dieser Krieg politisch führbar. Die Hoffnung, daß mit fortschreitender Zivilisation das gezielte Hinschlachten von Tausenden geächtet werden könnte, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das widerliche Hurrageschrei und die nicht nur in Großbritannien zu beobachtende regelrechte Kriegsgeilheit der Öffentlichkeit sind deprimierende Ausbrüche einer vergessen geglaubten primitiven Schlagetot-Mentalität. In diesen Köpfen war das Faustrecht die einzig mögliche Antwort auf die Aggression Saddams gegen Kuwait.

Die Zustimmung von links

Die Zustimmung für diesen Krieg reichte aber bis in die Linke hinein. Das seit dem Zusammenbruch des Sozialismus noch größer gewordene Mißtrauen gegenüber den eigenen Positionen, die Sehnsucht nach der Realpolitik und dem Verlassen des linken Ghettos sowie eine bedingungslose Solidarität gegenüber Israel waren die wichtigsten Motivationen für ein „Ja“ zu diesem Krieg. Daß diese Position bisweilen engagierter und missionarischer verfochten wurde als von jedem Militärstrategen, ist gleich von mehreren Beobachtern irritiert festgestellt worden.

Führbar wurde dieser Krieg auch durch die Medien. Die Militärzensur, aber auch die objektive Überforderung, Krieg in seinen mörderischen Dimensionen zu zeigen, sorgten dafür, daß sich die Verfechter dieses Krieges kaum mit seiner Realität konfrontieren mußten. Die Bilder von den verstümmelten Opfern im irakischen Bunker hatten diese Abstinenz der Wirklichkeit für einen erschütternden Augenblick durchbrochen.

So steht denn am Ende eines zu befürchten: Daß Kriege nicht mehr führbar sind, wird erst der letzte Krieg beweisen. Und solange wird weiter ausprobiert, was Mensch und Erdkugel zuzumuten ist. Manfred Kriener

Der Autor ist freier Journalist in Berlin