: Lettland vor der Volksbefragung
Nationale Ultras spalten Unabhängigkeitslager/ Die prosowjetischen Kräfte öffnen die Trickkiste ■ Von Ojars J. Rozitis
„Während in Litauen die Volksbefragung wie ein festliches Ereignis erwartet wurde, deutet in diesen Tagen in Riga nichts darauf hin, daß ein wichtiges Datum ansteht. Die Stadt ist genauso grau und gleichgültig wie sonst auch.“ Mit diesen Worten leitete Radio Riga Mittwoch morgen einen Überblick über den Stand der Vorbereitungen zu der Volksbefragung in Lettland ein. Für heute hat das Parlament der Republik alle über 18 Jahre alten Personen mit ständigem Wohnsitz in Lettland dazu aufgerufen, auf die Frage „Treten Sie für eine demokratische und staatlich unabhängige Republik Lettland ein?“ mit ja oder nein zu antworten. Auch in Estland wird die Bevölkerung heute nach ihrer Position zur Unabhängigkeit gefragt.
Man darf getrost vermuten, daß das Stimmungsgefälle zwischen Vilnius und Riga sehr viel damit zu tun hat, daß die Litauer von vornherein sicher sein konnten, ein überwältigend positives Votum für die Unabhängigkeit zu erreichen, stellen sie doch 80 Prozent der Gesamtbevölkerung in ihrer Republik. Es kommt hinzu, daß am 9. Februar, dem Stichtag, die Eindrücke der blutigen Ereignisse in der litauischen Hauptstadt ungleich frischer waren.
Anders die Lage in Lettland: Hier erreicht der Anteil von Nichtletten fast 50 Prozent, sehr viel größere Bevölkerungsgruppen sind prosowjetisch eingestellt. So gingen dann auch die Prognosen der Meinungsforscher in Riga vorletzte Woche dahin, daß in Lettland nur etwa 70 Prozent der Stimmberechtigten sich für einen souveränen, demokratischen Staat aussprechen werden — vorausgesetzt, die Befragung wird nicht in größerem Umfang boykottiert.
Aber auch um dieses Ergebnis wird gerungen — und von den konservativen Kräften, wie der Interfront oder der KP, nicht immer mit sauberen Argumenten. So berichtet Radio Riga, daß Abgeordnete der für den Erhalt der UdSSR eintretenden Minderheitsfraktion im lettischen Parlament ihren Wählern angst zu machen suchen, indem sie behaupten, in einer unabhängigen Republik Lettland werde es keine russischen Schulen geben und überhaupt werde man die Nichtbürger Lettlands von hier verjagen.
Den Vorwand für derartige Behauptungen hat nicht selten die Bewegung der Bürgerkomitees geliefert. Deren Grundthese lautet, daß nicht das unter Okkupationsbedingungen gewählte Parlament in Riga eigentlicher Träger der staatlichen Souveränität sei, sondern die Bürger der ehemaligen Republik Lettland bis 1940 und deren Nachkommen. Im Umkehrschluß läuft diese These auf eine Zweiteilung der heutigen Bevölkerung Lettlands hinaus: hier die „echten“, politisch voll berechtigten Bürger, da die während der Besatzung „illegal zugezogenen“ Nichtbürger. Mit dieser legalistischen Argumentation hatte die Führungsspitze der lettischen Bürgerkomitee-Bewegung Anfang Februar auch zum Boykott der Volksbefragung aufgerufen — und wurde selbst dann nicht einsichtig, als die estnische Schwesterorganisation dem gemeinsamen Verweigerungsappell wenig später abschwor.
Die Erkenntnis jedoch, daß man sich dank einer solchen Haltung plötzlich in einem Lager mit prosowjetischen Kräften wiederfinden würde, die das Gorbatschow-Referendum am 17. März auf ihre Fahnen geschrieben haben, muß für die örtlichen Bürgerkomitees dermaßen erschrecken ausgefallen sein, daß diese sich in den letzten Wochen massenhaft an den Vorbereitungen zu der Volksbefragung beteiligt haben. So wird es womöglich neben den unionstreuen Gruppierungen einen weiteren Verlierer der Abstimmung am 3. März geben: die Führung der Bürgerkomitee-Bewegung.
In den jüngsten Tagen haben sich auch Meldungen darüber gehäuft, daß Vertreter der Interfront und der KP in den lokalen Wahlkommissionen versuchen, die Durchführung der Befragung durch stille Sabotage vor Ort zu vereiteln. Am Donnerstag morgen berichtete Radio Riga über einen neuen Kniff aus dem Arsenal der moskautreuen Abstimmungsgegner: In einigen Bezirken der lettischen Hauptstadt hätten die Hauswarte bei älteren Leuten vorgesprochen, um deren Pässe einzusammeln. Dabei sollen die vermeintlich freundlichen Helfer erklärt haben, die Ausweise würden für eine Neuberechnung der Renten gebraucht. Da bei der Wahl der Paß vorgelegt werden muß, soll mit diesem Betrugsmanöver die Zahl der Nichtwähler erhöht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen