: Israels rasche Rückkehr zur Normalität
Über Nacht veränderte sich das Leben in Tel Aviv wieder völlig/ Einzig für Palästinenser gilt weiterhin der Ausnahmezustand ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin
Nach sechs Notstandswochen hat man die Israelis gestern wieder in die normale Routine entlassen. Plötzlich waren die Straßen wieder voll mit Menschen und Autos. Pkws, die in den letzten Wochen vor allem dazu dienten, Städter abends in das relativ sichere Umland zu bringen und dann am nächsten morgen zurück zu den Büros der City, verstopfen jetzt wieder die Straßen und Parkplätze der Innenstadt.
Auch sonst ist das Leben von einer Minute zur nächsten wieder erwacht, kaum daß im Radio verkündet wurde, die Gasmasken könnten weggepackt werden. Die Angst vor den Scud-Raketen schien wie weggeblasen, auch wenn der Golfkrieg noch gar nicht zu Ende war. Niemand zweifelte auch nur einen Augenblick an der angenehmen Botschaft des Militärsprechers. Ladenbesitzer kratzten die Plastikstreifen von den Schaufenstern, um das wochenlang stillgelegte Geschäft rasch wieder anzukurbeln. Alles was bisher hinter halbwegs sicheren Mauern und in der Nähe von gegen Giftgas abgesicherten Wohnzimmern hockte, eilte ins Freie — wie es Gefangene aus ihren dunklen Zellen zum Spaziergang auf den Gefängnishof drängt. Der Kontrast zwischen den gespenstisch leeren Straßen gestern und den heute lärmend überfüllten Gehsteigen wurde noch durch die vielen buntmaskierten, verkleideten Kinder verschärft, die gestern das Purim- Fest richtig feiern konnten — so, wie es immer Brauch war.
Bei der Pressekonferenz mit dem beliebten Militärsprecher Nachman Schaj (Spitzname: „Valium der Nation“, weil seine beruhigende Art und Radiostimme jeden Scud-Alarm begleitete) wollte man vor allem eine Erklärung dafür bekommen, daß der Übergang zur „Normalität“ so plötzlich kam und so umfassend ist: von größter Vorsicht und strengen Maßnahmen gegen mögliche Angriffe, nun im Nu zur Aufhebung aller Vorkehrungen und Sicherheitsregeln. Die Antwort lautete: Die Wahrscheinlichkeit eines Raketenangriffs ist jetzt viel geringer, und die „Ostfront“ ist ohne Irak viel ungefährlicher — weil schwächer. Eine plausible Begründung kam dann aus dem Mund des Verteidigungsministers Mosche Arens, der betonte, daß die andauernden Notstandsverordnungen einen „zu hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Preis fordern“. Kurz: Man kann so nicht weitermachen, sonst geht die Wirtschaft ein und die Verängstigung nimmt überhand. Jetzt gab es die gute Gelegenheit durch das Purim-Fest und dem sich anschließenden Wochenende den Menschen Zeit zu geben, sich wieder an ein normales Dasein zurückzugewöhnen. Also: Abschaffen der selbstgebastelten „gassicheren“ Plastikinstallationen daheim und endlich wieder die Fenster weit auf. Keine Gasmasken mehr, aber dafür wieder Theater, Konzerte, Sportveranstaltungen und Discos, das ist kein schlechter Tausch.
Trotzdem: Für Hunderte von Menschen bleibt das Leben hart und anormal: Familien, deren Wohnungen zerbombt und noch nicht wieder aufgebaut worden sind. Viele leben provisorisch in Hotels oder bei Verwandten oder mußten in Mietwohnungen übersiedeln. Der direkte Scud-Schaden beträgt ungefähr 200 Millionen US-Dollar. Durch einen glücklichen Zufall (und weil viele Einwohner getroffener Häuser verreist waren, d.h. sich in größere Sicherheit gebracht hatten) gab es nur zwei Todesopfer bei 18 Angriffen mit 39 Scuds; und von den 288 Verwundeten kamen die meisten mit leichten Verletzungen davon. Aber zwölf Menschen kamen ums Leben, weil sie mit Gasmasken nicht richtig umzugehen wußten oder in der Aufregung tödliche Herzanfälle erlitten. Überhaupt hat sich in den „Scud- Wochen“ die Zahl der Infarkte mehr als verdoppelt; es gab natürlich viel häufiger Herzversagen und ernste Störungen des Nervensystems.
Unter denen, die noch nicht zur Normalität zurückdurften, waren die 1,8 Millionen Palästinenser der besetzten Gebiete, für die nach wie vor die Ausgangssperre in Kraft ist. Der Armeesprecher erklärte, dies sei nötig, weil die Ereignisse im Irak scharfe Reaktionen unter Palästinensern auslösen könnten. Die Palästinenser seien erregt und verwirrt — das könne zu gewalttätigen Demonstrationen führen. Deshalb hat Israel auch weitere Truppenverbände in die besetzten Gebiete geschickt, um den möglichen „trouble“ im Kern zu ersticken.
Der totale Hausarrest, der seit Kriegsbeginn in Kraft war, wird jetzt mit Unterbrechungen fortgesetzt. Ein paar Tausend Palästinenser könnnen mit Sondererlaubnis wieder Tagelöhnerarbeit in Israel verrichten, aber zwei Drittel der Leute aus dem Gazastreifen und Westufer, die in den letzten Jahren ihren Lebensunterhalt in Israel verdienen konnten, sollen in Zukunft keine Arbeitsbewilligungen mehr bekommen; und damit wird die Arbeitslosigkeit in den besetzten Gebieten auf 60 Prozent (der vorhandenen Arbeitskräfte) — oder mehr — ansteigen. Eine katastrophale Folge ist der chronische Geldmangel, und der fast totale Stillstand der Wirtschaft in den besetzten Gebieten.
Das Ende des Kriegszustands bedeutet auch eine Rückkehr zu den Differenzen die der „nationale Konsens“ in den letzten Wochen verdeckt hatte. Ein wichtiges Thema das wohl bald auf der Tagesordnung stehen wird, ist die schlechte Vorbereitung der zivilen Verteidigung und der Hilfsdienste für den Kriegsausfall. Die Frage wird gestellt, weshalb es keine Bunker gab, die der Bevölkerung Schutz bieten. Die Bedrohung durch Raketen und eventuell auch Giftgaswaffen war für niemand ein Geheimnis. Die Gefahren für das zivile Hinterland sind nicht neu: Was hat man getan, um die Bevölkerung wirklich zu schützen? Seit mindestens einem Jahr droht Saddam Hussein mit Vernichtungsangriffen, mit Raketen und Gas; seit einem halben Jahr war klar, daß es im Golf Krieg geben wird, und daß Israel mitbetroffen ist. Der jüdischen Bevölkerung und den arabischen Bürgern Israels wurden zwar Gasmasken angeboten, aber warum hat es so wenig andere ernste Vorbereitungen für den Zivilschutz gegeben? Erst in letzter Minute kamen Patriot-Raketen aus Amerika, aber auch sie gewährten kaum eine effektive Verteidigung gegen irakische Scuds.
Dieses Nichtgeschützsein war für die israelische Bevölkerung wohl das schwierigste Problem dieser Kriegswochen. Das nächtliche russische Roulettespiel: Wo wird die Rakete explodieren, und trifft es diesmal mich, meine Familie, meine Wohnung, war nervenzerrüttend. Mit etwas mehr Voraussicht und Vorbereitung wäre mehr Sicherheit möglich gewesen. Israels Existenz war natürlich nie gefährdet, und relativ wenig Leute wurden physisch verwundet, aber die psychosomatischen und psychischen Schäden, die traumatische Erfahrung vor allem der Kinder wird wohl nicht so leicht zu beheben sein, wie die Verletzungen und Materialschäden
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