Der verspätete Weihnachtsmann aus Brüssel

Die EG will den fünf neuen Bundesländern beim Integrationsprozeß mit über elf Milliarden DM unter die Arme greifen  ■ Von Michael Bullard

Brüssel. Nur heileweltmännisch daherreden reicht nicht, weiß der Vizepräsident der Brüsseler EG-Zentrale, Henning Christophersen. Deswegen will der für Wirtschaft und Finanzen zuständige Kommissar den „fünf neuen Bruderländern“ bei ihrem Integrationsprozeß in die Europäische Gemeinschaft tatkräftig unter die Arme greifen.

Über elf Milliarden DM möchte der verspätete Weihnachtsmann dazu in den nächsten drei Jahren lockermachen. Startschuß für die Verteilung der Zuschüsse (sechs Milliarden) und Kredite (5,2 Milliarden) der EG ist voraussichtlich der 13. März. An diesem glücksbringenden Mittwoch will die EG-Kommission ihr „Gemeinschaftliches Förderkonzept für die Gebiete von Ost-Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen“ verabschieden.

Im dem angeblich geheimen, weil noch nicht endgültig beschlossenen „Entwurf des Gemeinschaftlichen Förderkonzepts“ wurde der Verteilungsschlüssel der Zuschüsse aus den drei EG-Strukturfonds für regionale Entwicklung, Soziales und Landwirtschaft wie folgt festgelegt: Danach steht Sachsen an erster Stelle mit 732,7 Millionen Ecu (ein Ecu sind etwa zwei DM), gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 505,4 Millionen Ecu, Brandenburg 475,8 Millionen Ecu, Thüringen 432,7 Millionen Ecu, Mecklenburg-Vorpommern 409,2 Millionen Ecu und Ost-Berlin mit 164,2 Millionen Ecu. Als Kriterium für die Verteilung diente in Ermangelung anderer verläßlicher Statistiken vor allem die Bevölkerungszahl der neuen Bundesländer, aber auch eine vage angedeutete „Bedürftigkeit“.

Über die geplante Verteilung der Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in der Gesamthöhe von 5,2 Milliarden DM schweigt sich der Entwurf aus. Allerdings steht die Verteilung der Zuschüsse nach Bereichen fest. Die beiden größten Summen sind der „Unterstützung produktiver Investitionen“ (690 Millionen Ecu) und der „Förderung wirtschaftsnaher Infrastruktur“ (685 Millionen Ecu) vorbehalten. Damit möchte die Kommission den „örtlichen Zugang zu Gewerbegebieten“ verbessern, die „Energie- und Wasserversorgung, aber auch die Müll- und Abwasserbeseitigung“ unterstützen.

Schwerpunkt drei mit dem ansprechenden Titel „Maßnahmen zur Erschließung des Humankapitals“ ist den Planern 470 Millionen Ecu wert, weil „die gesamte arbeitende Bevölkerung praktisch auf allen Ebenen eine berufliche Fortbildung benötigt, die ihr die in der Marktwirtschaft erforderlichen Kenntnisse vermittelt“. Die Fördermaßnahmen, das hat EG-Sozialkommissarin Vasso Papandreou durchgesetzt, müssen allerdings „mit der Gemeinschaftspolitik in bezug auf die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen im Einklang stehen“.

Umwelt und Aufforstung schlägt mit 396 Millionen Ecu zu Buche, wobei „Umweltschutzmaßnahmen“ unter allen Schwerpunkten anzutreffen sein sollen. Es liegt schließlich „auf der Hand, daß die Beseitigung der bestehenden Umweltbelastung und die Einführung umweltfreundlicher Verfahren von größter Bedeutung sind“. Deswegen will die Kommission auch kontrollieren, ob die EG-Umweltgesetze bei der Durchführung der von ihr geförderten Projekte wirklich eingehalten werden. Daß die meisten EG-Umweltgesetze jedoch in den fünf neuen Bundesländern für eine Übergangsfrist von rund zwei Jahren ausgesetzt sind, davon ist in dem Entwurf keine Rede.

Hinter schön klingenden Formulierungen verstecken sich die EG- Experten auch, wenn es um das Thema Energie geht. „Energieersparnis, erneuerbare Energiequellen, saubere Kohlenutzung“ sind ihre Leitlinien. Kein Wort davon, daß es zum Einsatz erneuerbarer Energiequellen kaum mehr Möglichkeiten gibt, weil die fünf westlichen Stromkonzerne den größten Teil der Energieversorgung im Gebiet der ehemaligen DDR kontrollieren. Fischerei und Landwirtschaft erhalten noch 354 Millionen Ecu. Damit sollen in den neuen Ländern „wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Betriebe, insbesondere bäuerliche Familienbetriebe geschaffen werden“. Dies erfordert eine umfassende Neuorganisation der Betriebs- und Organisationsstrukturen. Außerdem will die EG-Kommission die Verarbeitungs- und Vermarktungsanlagen landwirtschaftlicher Produkte wie Fleisch, Milch, Obst und Gemüse vollständig renovieren. 225 Millionen Ecu sollen für die „Erleichterung der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen und 90 Millionen Ecu zur „Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit“ zur Verfügung stehen. Die gleiche Summe wird der technischen Hilfe zugute kommen, mit der vor allem „Vorstudien, Beratungen bei der Ermittlung geeigneter Projekte und ihre Begleitung“ finanziert werden sollen.

Mit Ausnahme der technischen Hilfe, bei der die EG bis zu 100 Prozent zubuttern will, ist bei all den anderen Bereichen eine Ko-Finanzierung von mindestens 50 Prozent Bedingung für den Zugriff auf die Gemeinschaftsgelder. Beim Beispiel Sachsen, wo die benötigten Investitionen in die Infrastruktur auf 578,5 Millionen Ecu geschätzt werden, bedeutet dies, daß die EG 211 Millionen Ecu übernehmen würde, wenn die Bundesländer ebenfalls 211 Millionen Ecu und die Gemeinden 156,5 Millionen Ecu beisteuern. Weil die bankrotten Gemeinden in der Ex- DDR allerdings Schwierigkeiten haben werden, diese Gelder aufzutreiben, ist der Abfluß der EG-Gelder in höchstem Maße gefährdet.

Rund ein Viertel oder 471 Millionen Ecu sollen nach dem EG-Plan die öffentlichen Haushalte (EG: 208,7 Millionen Ecu) dazu beitragen, und 158,4 Millionen Ecu müßten aus privaten Quellen finanziert werden. Den größten Batzen (1.372 Millionen Ecu) sollen vermutlich die Unternehmer beisteuern, die sich bei den noch ungeklärten Eigentumsverhältnissen jedoch nur zögerlich engagieren. Das Ziel der EG-Intervention, zur „reibungslosen Einbeziehung des Gebietes der ehemaligen DDR“ in die Gemeinschaft beizutragen, scheint also auch in dieser Hinsicht gefährdet.

Bei ihren Berechnungen gehen die Kommissionsexperten von einem Gesamtbedarf der neuen Bundesländer von über 14 Milliarden Ecu aus, wovon etwas mehr als die Hälfte (7,57 Milliarden Ecu) die öffentlichen Haushalte beisteuern sollen. Davon will die EG 3,0 Milliarden Ecu übernehmen, 3,87 Milliarden Ecu sollen vom Bund oder den Ländern und 700,4 Millionen Ecu von den Gemeinden kommen. Die restlichen 6,5 Milliarden Ecu sollen privat finanziert werden. In welchem Verhältnis diese Rechnungen zu den auf über 100 Milliarden DM geschätzten Gesamtkosten der Einheit stehen, geht aus dem Entwurf nicht hervor. Allerdings lehnt er sich eng an die Vorschläge der Bundesregierung an, den diese Ende letzten Jahres der Kommission vorgelegt hatte. „Westdeutsche Ministerien haben auf Basis willkürlicher Daten Pläne erstellt, die die kommunalen und regionalen Anforderungen in den neuen Bundesländern nur wenig berücksichtigen.“ Deshalb sieht die Grüne Europapaabgeordnete Birgit Cramon- Daiber auch das Ziel der EG-Kommission gefährdet, „innovativ zukunftsweisenden Investitionen zur regionalen Entwicklung“ den Vorzug zu geben. Statt dessen, so fürchtet die Berliner Sozialpolitikerin, werden die Gelder zur Deckung auftauchender Finanzlücken benutzt oder gar gänzlich blockiert werden.

Das zentrale Problem für die Europaabgeordneten ist die Ko-Finanzierung, über die westdeutsche Experten in den Ostverwaltungen der Bundesbehörden entscheiden. Diese sind die Stellen, wo Förderungsanträge gestellt werden können. Um die Irrwege durch den Bürokratendschungel abzukürzen, ist die EG- Kommission dabei, Beratungsstellen in den neuen Bundesländern einzurichten. Künftig sollen neun Euro- Info-Zentren über Probleme im Binnenmarkt informieren.