Theatromania oder die Mächte der Finsternis

Zwei Teufelskerle geben Auskunft über die Anfänge und den Verlauf einer Theaterleidenschaft  ■ Von Frank Schüre

Im Jahr 1681 veröffentlicht der Hamburger Pastor Anton Reiser eine aggressiv-polemisierende Schrift gegen ein Phänomen, das in seiner konkreten Erscheinungsform der Kirche schon immer ein Dorn im Auge war. In Theatromania oder die Mächte der Finsternis in den öffentlichen Schauspielen, von den alten Kirchenlehrern und etlichen heidnischen Skribenten verdammt geißelt Pastor Reiser das Theater und seine Akteure, die Schauspieler, als Bündnispartner der Hölle. Er führt damit die alte klerikale Thaterfeindschaft weiter, welche sich am empfindlichen Akt öffentlicher Repräsentation entzündet. Bereits die Kirchenväter beharrten auf dem „sakralen Präsentationsmonopol“, indem sie sich auf ausdrückliche christliche Darstellungsverbote beriefen. Sie forderten den Erhalt der „Liturgie der Heiligen Messe als das wahre christliche Drama“ (Klaus Laermann) und postulierten damit Kanzel und Bühne als unvereinbar.

Der eigentliche Ausbruch des so teuflisch gekennzeichneten Phänomens der „Theatromania“ ereignet sich in Deutschland knapp hundert Jahre später. Wir befinden uns im Zeitalter der Aufklärung, und neben den Stimmen der Kirche und des Adels erklingt jetzt auch die der Vernunft. In dieser „Sattelzeit“ der Moderne demonstriert eine sich etablierende Bürgerschicht die Ausweitung individueller Entfaltungsmöglichkeiten und entdeckt dabei Identität als Problem. Distanziert von Kirche und weltlicher Obrigkeit und konfrontiert mit einer völlig neuartigen Expansion der Möglichkeiten und der sich daran entzündenden Empfindungsvielfalt schneidert sich das bürgerliche Individuum im Versuch der Eigenregie ein vernunftzentriertes Korsett.

Der Bürger erkennt sich als Träger des Fortschritts in einer Welt, deren Horizont sich zunehmend erweitert und deren alte Bedachung diesem Vorgang nicht gewachsen ist und daher immer deutlicher verschleißt und einbricht. Betrachtet man diese ungewohnte Position genauer, läßt sich aus dem vielstimmigen Chor der bürgerlichen Stellungnahmen dazu etwas beständig Angestrengtes und „Verschwitztes“ erkennen: Schlingernd zwischen wegrutschender Bodenständigkeit und einem sich entleerenden Himmelszelt etabliert sich Nervosität als eigentlich bürgerliches Befinden.

In dieser Zeit der Neuorientierung und des Traditionsverlustes wird einer größeren Bevölkerungsschicht der Begriff „Ich“ in seiner beunruhigenden Komplexität deutlich. Es kommt zu einem Ausbruch individueller Empfindsamkeit, einer Gefühlskultur, mit deren Hilfe die geschärfte bürgerliche Sensibilität neue Möglichkeiten dieses „Ich“ untersucht. Diese Exkursion ins Land der unbegrenzten Empfindunden versammelt sich allerdings ordentlich unter der Oberhoheit und Direktion der Vernunft, denn man möchte nicht der Empfindelei des Adels verfallen. Zudem sollen keine schlafenden Geister geweckt werden, vor deren direkter Konfrontation dem Bürgerlein doch etwas unheimlich ist. Körperlich-seelisch aufgeplustert und dabei beständig und mißtrauisch selbst musternd nach eventuellen Störenfrieden im Pelz der angepeilten Schönheit konsolidiert sich hier eine neue Gesellschaftsschicht.

Der „andere“ Weg

Neben dem Lese- und Briefkult, sowie der beginnenden Reiselust ist die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts in Deutschland die große Zeit des bürgerlichen Theaters. Aus Wanderbühnen werden feste Schaubühnen und der Schauspieler avanciert gar zu einem Kulturheros. Dieser führt den identitätshungrigen Bürgern einen waghalsigen Balanceakt zwischen „Schein und Sein“ vor, eine Grenzpartie, die für das junge und unsichere Selbstbewußtsein der bürgerlichen Existenz von großer Faszination ist.

„Er durfte (sozusagen nicht als er selbst) vor andere treten, um diesen gerade dadurch zu zeigen, wie sie selbst sein durften. Das Ineinander von Reflexivität und Befreiung, die in seiner Figur auf der Bühne verwirklicht schienen, machte die unglaubliche Faszination des Schauspielerberufs in dieser Epoche aus. Es schien eine Lust (und keineswegs mehr eine List), als ein anderer vor andere zu treten.“ (Klaus Laermann)

Genau hier entzündete sich die Leidenschaft, welche der Hamburger Pastor als Ausgeburt der „Finsternis“ geißelte. Wie ein Magnet zog das Theater den deutschen Bürger an, seine dort dargestellte Möglichkeitsform zu betrachten und sich mit ihr zu identifizieren. Und um wieviel mehr mußte die Bühne erst auf die junge Generation der Zeit wirken, deren Bewegungen von noch weniger Sachzwängen behindert waren! Gerade bei den sensibleren Vertretern der Bürgerjugend führte das labile Selbstbewußtsein ihrer Schicht zu einer Identitätskrise, deren Mobilisierungseffekt sie unhaltbar auf den „anderen Weg“ zum Schauspielerberuf drängte. Die Theaterleidenschaft der Goethe-Zeit erwies sich als Verwirrungspotential einer von Empfindsamkeit geradezu geplagten Generation und war darin eine Antwort auf die wachsende Entfremdung der bürgerlichen Lebenswelt. Als „Klimax aus Lesen-Schauen-Schauspielen“ wurde Theatromania „zum Schreckgespenst der um ihre heranwachsenden Söhne fürchtenden bürgerlichen Familienväter“. (Lothar Müller)

Die Reaktion ließ nicht auf sich warten: Wie in jeder jungen Bewegung herrschte auch in der bürgerlichen eine besondere Sorge und Aufmerksamkeit für ihre Nachkommenschaft. Das neue Wertesystem der vernunftorientierten Selbstkontrolle konnte gar nicht früh genug in die Kinder installiert werden. Dies war die Blütezeit der deutschen Pädagogik und somit die eigentliche Geburtsstunde des deutschen Oberlehrers. Bildung war zum Grundstock der bürgerlichen Persönlichkeit erkoren und Erziehung deren Ansatz. In einem Schwall pädagogisch gekleideter Warnungen setzte die aufgeklärte Vernunft Theatromania ganz oben auf die Liste jugendgefährdender Bedürfnisse und riet dringend zur Abstinenz. Auf dem Höhepunkt dieser die ganze bürgerliche Öffentlichkeit beschäftigenden Diskussion prangerte Johann Heinrich Campe in seiner SchriftSoll man Kinder Komödien spielen lassen? die Gefahr moralischer Korruption und sozialer Desintegration aufgrund der hohen Identifikationsdichte des Theaters an. Das kindliche Schauspielbedürfnis sei:

„Einer vernünftigen Erziehung Hauptzweck[...] zuwider, weil ihre Einbildungskraft und ihre ganze Denkungsart dadurch einen theatralischen und romantischen Schwung bekommt, der sich mit der Vorbereitung auf das wirkliche Leben und dessen Geschäfte und Pflichten nicht wohl vereinbaren läßt[...] Und wenn man dann sehen und hören muß, wie die kleine Buhlerin und der kleine liebenswürdige Taugenichts für ihre allerliebsten Schelmereien beklatscht, gelobt, gestreichelt und bewundert werden: o dann empört sich vollends meine Seele gegen ein so unmoralisches, sittenverderbendes Kinderspiel.“

Diese dem klerikalen Ketzervokabular durchaus vergleichbare Polemik bestätigt das Theater auch für die deutsche Aufklärung als Spaltmaterial. Über die Frage, wieviel und welche Aufklärung der moderne Mensch eigentlich braucht, geraten diese Experten der Pädagogik speziell beim moralisch-riskanten Bereich des Schauspielens in heftigen Streit. Die Theatromanen selbst sehen sich in der merkwürdigen Lage, von ihren Widersachern gleichzeitig abgelehnt und motiviert zu werden: Denn der mitreißende Kanzelauftritt des Predigers unterläuft die erklärte Theaterfeindschaft der Kirche, der Bildungsanspruch der mißtrauischen Aufklärer verschafft dem Theater seinen intellektuellen Werkzeugkasten, und der Adel schließlich nimmt in seinem vorbildlichen Repräsentationsstatus von vornherein eher eine Konkurrenzposition ein. Derart unterdrückt und angeregt entwickelt sich das bürgerliche Theater zu seinem Forum, auf welchem sich die gesellschaftlichen Konflikte in besonderer Brisanz entfalten.

Der theatralische Gesandte

Das prächtigste und bekannteste Opfer der Theatromania präsentiert Johann Wolfgang von Goethe in seiner Romanfigur des Wilhelm Meister. Mit der fragmentarischen Erstfassung von dessen Geschichte, der Theatralischen Sendung, entwirft Goethe einen emphatischen Theaterroman, welcher das Drängen und die Sehnsucht einer Theaterleidenschaft seiner Zeit auf höchst illustrative Weise beschreibt.

Wilhelm wächst in einem Haushalt auf, den eine treulose Mutter und ein hartherziger Vater führen. Seine kindlich-magische erste Begegnung mit dem (Puppen-)Theater verdankt er der altmodischen Einstellung seiner Großmutter: „Kinder müssen Komödien haben und Puppen.“ Am Weihnachtsabend öffnet sich in Meisters Wohnstube plötzlich eine Tür, in deren Fassung die Miniaturbühne installiert und mit einem „mysteriösen Vorhang verschlossen war“. Dieser geht auf, zeigt dem jungen Publikum „eine hochrot gemalte Aussicht in den Tempel“ und in diesem die von den Puppen der Großmutter aufgeführte Geschichte Davids und Goliaths. Von diesem Abend an steht Wilhelm Meister ganz im Bann des Theaters.

Speisekammern, Toiletten und Dachböden sind die heimeligen Räume, in welchen das Kind den großen Geheimnissen der Welt (oder auch den Geheimnissen der Welt der Großen) nachspürt. Während die anderen Kinder dort Naschwerk stehlen und „Onkel Doktor“ spielen, entdeckt Wilhelm in der elterlichen Speisekammer die Puppen und benutzt daraufhin den Dachboden als erste Probebühne seiner theatralischen Experimente und Inszenierungen. Später wird er Direktor, Regisseur und Hauptdarsteller eines Kindertheaters, das er mit seinen Spielkameraden gründet.

Der Umschlag vom Kindertheater zur erwachsenen Theaterleidenschaft ereignet sich dann parallel und verwachsen mit Wilhelms erster tiefer Liebesbeziehung: zu einer Schauspielerin! Und dies geschieht pünktlich zu dem Zeitpunkt, als der junge Mann, der Wilhelm jetzt ist, seine letzten Reifeprüfungen absolviert, um daraufhin in das endgültige und unverrückbare bürgerliche Lebenskostüm gesteckt zu werden. In einer Lebensphase, in der seine Alterskameraden an den ersten Stufen ihrer Karriere basteln und sich nebenbei in Männerrunden treffen, um erotische Magazine zu konsumieren und „aufklärerische“ Gespräche zu führen, wendet sich Wilhelm von solcher Normalität ab und der Geliebten und dem Theater zu — ein für die Theatromania entscheidendes Gespann.

„Wenn er denn nun in freier nächtlicher Stunde abschüttelnd allen Druck über einen großen Platz wandelte und seine Hände gen Himmel reichte, er fühlte alles hinter und unter sich; er los von allem und nun entgegen den Umarmungen seiner Geliebten in verstohlner Nacht, und wieder sich denkend in den Umarmungen seiner Geliebten auf dem blendenden Theatergerüste, und so Natur und Kunst, bewundert und beneidet, so war ihm immer der weite Weg durch die Stadt zu ihrem Haus ein Augenblick[...]“

Hier geht einer in „verstohlner Nacht“, den die „Mächte der Finsternis“ gepackt haben. Der Weg zur Geliebten ist der Weg zum Theater und umgekehrt. Goethe läßt in seinen Erzählerreflexionen keinen Zweifel, welche gesellschaftliche Situation zu dieser Orientierung führt:

„In eine Stadt gesperrt, ins bürgerliche Leben gefangen, im Häuslichen gedrückt, ohne Aussicht auf Natur, ohne Freiheit des Herzens. Wie die gemeinen Tage der Woche hinschlichen, mußte er mit unter hingehen, die alberne Langeweile der Sonn- und Festtage machte ihn nur unruhiger, und was er etwa auf einem Spaziergange von freier Welt sah, ging nie in ihn hinüber, er war zum Besuch in der herrlichen Natur und die behandelte ihn als Besuch. Und mit der Fülle von Liebe, von Freundschaft, von Ahndung großer Taten, wo sollte der damit hin? Mußte nicht die Bühne ein Heilort für ihn werden, da er wie in einer Nuß die Welt, wie in einem Spiegel seine Empfindungen und künftigen Taten, die Gestalten seiner Freunde und Brüder, der Helden und die überblinkende Herrlichkeit der Natur bei aller Witterung unter Dache bequem anstaunen konnte? Kurz es wird niemand wundern, daß er wie so viele andere ans Theater gefesselt war, wenn man recht fühlt, wie alles unnatürliche Naturgefühl auf diesen Brennpunkt zusammen gebannt ist.“

In den drei Theatermetaphern „Heilorts“, der „Nuß“ und des „Brennpunkts“ kennzeichnet Goethe einfühlsam die Bedeutung der Schaubühne: Zum einen ist sie der Kompensationsversuch des machtlosen und frustierten Bürgers, zum zweiten eine Welt in der Welt, eine Diminuierung also als Antwort auf die heillos expandierende und sich entfremdende Wirklichkeit; und drittens bietet die Schaubühne eine Spielfläche für eine vermißte Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit des individuellen Erlebens, das im (unnatürlichen) Kunstraum des Theaters gesucht und inszeniert wird.

Der Fürst der Geisterwelt

Karl Philipp Moritz beschreibt in seinem „Psychologischen Roman“ Anton Reiser den zweiten großen Theatromanen des ausgehenden 18.Jahrhunderts. Mit seinem Romantitel und Namen des Helden zitiert Moritz direkt den Hamburger Pastor und ersten öffentlichen Ankläger der Theaterleidenschaft aus dem Jahr 1681 und stellt damit klar, daß sein Roman die psychologische Untersuchung einer Seelenkrankheit ist. Der auf der Biographie seines Verfassers beruhende Anton Reiser schafft in seiner theatralischen Seelenverwandtschaft das extreme Gegenüber zu Goethes Wilhelm Meister. Moritz ergänzt die goethesche Poesie um die Prosa der Verhältnisse: Wilhelm, dem stetigen Mittelpunkt im Glanz der Laterna Magica der Theaterwelt, wird hier ein „jüngerer Bruder“ präsentiert: „von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin“ (so Goethe über Karl Philipp Moritz nach ihrer Bekanntschaft in Italien). Die Wirklichkeit hat Anton Reiser lediglich eine kümmerliche und rußende Funzel in die Hand gedrückt, welche eher die „Finsternis“ bewußt macht, als Licht zu verbreiten. Wie ein Vexierspiegel ergänzt und dramatisiert der von Geburt an zum Scheitern verurteilte Anton Reiser das Phänomen der Theatromanie um seinen eigentlich „finsteren“ und in seiner ästhetischen Radikalität faszinierend modernen Anteil: den ersten großen Anti-Helden der Literatur- und Theatergeschichte.

Der entscheidende Unterschied dieser beiden Figuren findet sich, wie so oft, im Milieu. Anton Reiser wächst gleichsam dritter Klasse auf und erfährt seine Lebenswelt ungleich weniger „gedämpft“ als der Großbürgersohn Wilhelm. Bei Reisers gibt es kein eigenes Haus, keine Großmutter und keine illuminierte Heiligabendvorstellung. Der Vater ist von Glauben und Beruf ein quietistisch gesonnener Militärmusiker mit einer ausgeprägten Zwangsneurose; die Mutter eine wehleidige und intrigante Hysterikerin, und deren Ehe ein offen ausgetragenes sado- masochistisches Ritual. Bereichert um einige Geschwister und Stiefbrüder aus der ersten Ehe des Vaters agiert und vegetiert dieses ärmliche Famlienensemble in einem einzigen Raum — mit entsprechend dreckigen und lautstarken Folgen.

In dieser Situation wird dem geistig Hochbegabten die Phantasie zur existentiellen Zuflucht. Nach dürftigster Anleitung lernt er innerhalb weniger Wochen lesen und stürzt sich von da an wie ein Verhungernder auf alles, was Buchstaben hat. Hier holt Anton sich, was die Realität ihm an sinnlicher Nahrung verweigert.

Im gleichen Alter, in dem Wilhelm im Festtagsgewand seine theatralische Initation erhält, befindet sich Anton als Hutmacherlehrling in Braunschweig, wohin die Eltern den Zwölfjährigen zur endgültigen eigenen Entlastung aus Hannover befördert haben. Nach den Prinzipien quietistischer Ausbeutung wird er dort an und über seine physischen und psychischen Grenzen gebracht. Auf dem Höhepunkt dieser sklavischen Mißhandlung erlebt Anton seine theatralische Offenbarung, die sein Leben von da an dirigieren wird.

Während Wilhelm Meister Geschenke auspackt und Weihnachtslieder singt, erfährt Anton von den hinreißenden Sonntagspredigten eines Braunschweiger Pastors — was für den Helden Goethes der „mystische Vorhang“ und „hochrote Tempel“ des Puppentheaters ist, wird Anton der sehnlichst erwartete sonntägliche Gang in den realen Tempel, der „Brüderkirche“ dieses Pastors Paulmann. Nach aufregendem Glockengeläut erlebt er dort als Partikel einer erwartungsvollen Menschenmenge im dämmrigen Zwielicht gotischer Motivfenster den Auftritt des berühmten Predigers.

„Und nun, als er anhub, welche Stimme, welch ein Ausdruck! — Erst langsam und feierlich und dann immer schneller und fortströmender: so wie er inniger in seine Materie eindrang, so fing das Feuer der Beredsamkeit in seinen Augen an zu blitzen, aus seiner Brust an zu atmen, und bis in seine äußersten Fingerspitzen Funken zu sprühen. Alles war an ihm in Bewegung; sein Ausdruck durch Mienen, Stellung und Gebärden überschritt alle Regeln der Kunst, und war doch natürlich, schön, und unwiderstehlich mit sich fortreißend.“

Mühelos gelingt Moritz in dieser Darstellung des Predigerauftritts der Bankrott jeder klerikalen Unvereinbarkeitserklärung von Kanzel und Bühne. Als Mitglied einer hingerissenen „Fan“-Gemeinde wird Anton der Auftritt des „Stars“ Paulmann zur sinnlichen Offenbarung. Von nun an hat er beständig die Erscheinung des Pastors vor Augen, die ihm theatralisches Vorbild aller weiteren Bemühungen und Sehnsüchte wird.

Gegenüber dem Helden der Theatralischen Sendung, der sich unmittelbar nach seinem ersten Puppentheatererlebnis für dessen Maschinerie interessiert und sich diese verfügbar macht, verfällt Anton ganz der Idolatrie für einen Bühnenstar des damaligen „Proletariertheaters“, bestehend aus Kirche, Kanzel und Pastor. Auf ihn fällt der Bannstrahl der Bühne im steilen Winkel der Außenseiter- und Parkettperspektive — im Gegensatz zu Wilhlem, dem Drahtzieher der Theatermaschinerie, bleibt Anton stets Spielball einer realen Umgebung. Bereits hier macht sich die entscheidende Verkennung der Theaterstruktur bemerkbar, welche für das Scheitern so vieler Theatromanen verantwortlich zeichnet: die Voraussetzung, gleichsam der Arbeitskittel des gefeierten Bühnenstars ist der Theatermacher! Die Aufführung vor Augen eines vielköpfigen Publikums ist das Ergebnis und die Krönung eines äußerst anspruchsvollen Gruppenprozesses. Die Theaterarbeit und darin besonders der Schauspielerberuf ist eine der intensivsten menschlichen Gemeinschaftsproduktionen. Keine andere schöpferische Tätigkeit fordert ein derartig umfassendes Einbringen des Individuums in die Gruppe (eine Tatsache, deren konsequenter Umsetzung wir die großen Theatergruppen unserer Zeit verdanken: Schaubühne, ThéÛtre du Soleil, Teatro di Parma). Und genau hier liegt der Knackpunkt der meisten Theaterlaufbahnen: eine große schauspielerische Leistung setzt eine ungewöhnlich stabile Persönlichkeit voraus — Anton Reiser dagegen erwartet diese als Ergebnis des theatralischen Auftritts. Die zwanghafte Idealisierung des Predigers Paulmann markiert den extremen Höhenunterschied zwischen dem Anti-Helden von Karl Philipp Moritz und dem Ziel seiner Sehnsucht.

„Und dann konnte er auf dem Theater alles sein, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte — und was er doch so oft zu sein wünschte — großmütig, wohltätig, edel, standhaft, über alles Demütigende und Erniedrigende erhaben — wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu sein schienen, und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen[...] Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt, als die wirkliche Welt, die ihn umgab.“

Nach dem ersten Besuch einer Theateraufführung bricht die Leidenschaft in Anton Reiser offen aus und flankiert von da an sein weiteres Leben. Offensichtlich gilt für Moritz' Helden der zweite Teil des Begriffs der Theatro-Manie: Ist Wilhelm Meisters Sendung schon im Buchtitel eine theatralische, so steht Anton Reiser ganz im Bannstrahl einer manischen Fixierung. Antons Schicksal ist das ständige Unterwegs, ein Konglomerat aus Flucht (vor der Wirklichkeit) und Verfolgung (der Fiktion) — ein Unterschied zu dem Helden Goethes, der sich auch in beider Namen niederschlägt.

Die desolate und ihn unbarmherzig ausgrenzende Situation seines Elternhauses, des ersten und wichtigsten Lebensraums, macht Anton jede Räumlichkeit so unzugänglich wie unerträglich. Aus seiner Sicht befindet sich die gesamte Gesellschaft in der privilegierten Sicherheit befestigter Räume, aus denen man ihn immer wieder verstößt. Getrieben von einem klaustrophoben Realitätsempfinden und einer Sehnsucht nach Geborgenheit bleibt Anton Reiser nur der Weg in die reale und ästhetische Ferne. Die Schrecken der Wirklichkeit und seine Sehnsucht nach der „Neuen (und heilen) Welt“ verschmelzen das Theater für Anton zum Symbol des Unerreichbaren.

In ungewöhnlicher Radikalität präsentiert Karl Philipp Moritz' „Psychologischer Roman“ die individuelle Extremform der gesellschaftlichen Verfassung seiner Zeit. Die nüchterne Analyse der beschädigten Seele Antons hält der dafür verantwortlichen Gesellschaft den Spiegel vor. Gerade die prosaische Dramatik seiner Befreiungsversuche aus den Fängen eines „blinden Fatum“ macht den Anton Reiser zu einem Plädoyer für eine ästhetische Reaktion auf den sich systematisch verknappenden Lebensraum. Ganz anders als die mitreißende literarische Könnerschaft der Theatralischen Sendung verschlägt die konsequente Tristesse des Anton Reiser dem Leser geradezu den Atem — auf den Höhepunkten dieser Seelenreise wird aus dem „glücklosen Engel der Geschichte“ (Heiner Müller) ein „Fürst der Geisterwelt“, gänzlich ergriffen und ergreifend mit den „Mächten der Finsternis“!

„Die reife süße Sinnlichkeit“

Man nehme den Dramatiker, den Monolithen in der Landschaft der Dramen, welcher die gesamte europäische Theatertradition, alle ihre Akteure und Flaneure zu gemeinsamer Wertschätzung vereint. Aus seiner Produktpalette wird mit unverrückbarer Zielstrebigkeit stets ein Drama zum Identifikationsmittel und Sprachrohr der Theatromanie: Sowohl Wilhelm Meister als auch Anton Reiser finden im Hamlet von William Shakespeare den Prototyp ihrer Verfassung. „Die Zeit ist aus den Fugen: Weh mir, zu denken,/ daß ich geboren ward, sie einzurenken!“ (Hamlet, 1,5).

Die tragische Konstellation Hamlets wird zur Identifikationsstruktur des Helden der Theatralischen Sendung, der in sich „den werdenden vollkommensten Schauspieler und den Schöpfer eines großen National- Theaters erblickte.“ Als Urform theatralischer Zerrissenheit wird Hamlet zum Leitbild Wilhelms und seiner Seelenverwandten. Auf Hamlets Schultern entdecken sie die Last des gesellschaftlichen Umbruchs, die zu bewältigen der Theatromane sich berufen und überfordert fühlt: „eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist!“, so Wilhelm Meisters Analyse der Figur Hamlets.

Für Wilhelm eher idealer Anspruch mit entsprechend melancholischen Konsequenzen, sieht sich Anton Reiser der realexistierenden Dissonanz zwischen ersehnter und tatsächlicher Bewegungsfreiheit um einiges direkter ausgesetzt. Ihm ist die Zeit in einer Weise ausgerenkt, die sich eher als Bruch beschreiben läßt. Für Anton ist jede Tat ein Balanceakt auf der Grenze seiner Selbstkontrolle; seine Empfindungen pendeln konsequent zwischen Größenwahn und tiefer Depression — wirkliche Taten sind für den Seelenkranken von Moritz nur in der Phantasie möglich.

Gemeinsamer Nenner, Dreh- und Angelpunkt der drei ungleichen Helden Hamlet, Wilhelm und Anton ist der Mutterverrat. Die „böse Mutter“ ist in allen drei „Dramen“ das Sinnbild und die mehr oder weniger bewußte Offenbarung der desolaten Situation. In der Treulosigkeit der Frau gegenüber ihrem Ehemann und ihrem Kind klafft für das Kind der „Riß in der Schöpfung von oben bis unten“ (Georg Büchner). So wie er von der Mutter das Leben geschenkt bekommt, erfährt das Kind durch sie dessen tiefe Zerrissenheit. Die „reife süße Sinnlichkeit“ Ophelias (so Wilhelm Meister) ist das aus dieser schmerzhaften Erfahrung erwachsene Wunschbild und damit der leidenschaftliche Wahlspruch der Theatromanie. Die Frau, welche auf das Zerbrechen ihres Lebenssinns mit der „sinnlichsten“ und letzten Konsequenz reagiert: mit Wahnsinn und Selbstmord, bedeutet eine dramatische Orientierung, bei der sich Liebe und Berufung des Theatromanen vereinen.

Der zwangsläufige Verlust der mütterlichen Liebe und Geborgenheit flammt für das Kind im bewußten Erleben der Treulosigkeit oder gar Mißhandlung durch die Mutter ganz besonders auf. Dieser Bruch wird am Theater in dem Maße verarbeitet, wie es dort gelingt, in intensiver schau-spielerischer Auseinandersetzung die verlorene sinnliche Nähe wiederzufinden: Wilhelm Meister ist als Mittelpunkt des bunten und oft erfrischend kindlichen Theaterreigens einem Erleben ausgesetzt, wie es wohl kaum (z.B.) ein Bankangestellter erfährt.

Für Anton Reiser ist die Sehnsucht nach dem strahlenden Auftritt und anschließenden Bad in der begeisterten Zuschauermenge der hoffnungslose Wunsch, zum Geliebten aller zu werden und darüber die Lieblosigkeit der einen zu vergessen. Die roten Erlebnisfäden für die Ideale von Wilhelm und Anton. An diesen konkreten Erfahrungen entwickeln sich die realen „Wege zum Theater“ und in ihrer Leidenschaft entsteht das Theater als „wirklichere“ Wirklichkeit gegenüber dem Disziplinarium der bürgerlichen Vernunft.

„Dieses stille, stumme, dumpfe Sehnen, die finstern, schwermüthigen Gefühle, wovon die Seele ergriffen ist, jene poetischen Stürme, darin die Jugend, der Jüngling, und das angehende Mannesalter sich so wohl gefallen, auf der Bühne auszusprechen, dort das Wohlgefallen, die Thränen der Menge einzuärndten, welche von der gewohnten Umgebung gewöhnlich nicht verstanden oder gar verspottet wird — ist eine eigene, schleichende, verzehrende Krankheit. Sie ist dem Heimweh zu vergleichen.“ (August Wilhelm Iffland)

Im Jahrhundert der Empfindsamkeit beschreiben die Bewegungen der Lesewut, Reiselust und Theatromanie eine Revolution der Sinnlichkeit. Ähnlich der Sexuellen Revolution unserer Jahrhunderthälfte unterstreicht sie eher die Bewußtwerdung der Problematik ihres Gegenstandes als seine euphorische Befreiung — wie es eine oberflächliche Betrachtung suggerieren könnte.

In einer Zeit, die gerne unter dem Prädikat möglicher individueller Entfaltung verhandelt wird, entdecken die sensiblen Vertreter der deutschen Bürgerjugend, daß aller Lebensraum betreits vergeben und „befestiget“ ist. Mit dieser Aufklärung der materiellen und religiösen Situation der Gesellschaft stürzen fast alle Utopien und Heilsgewißheiten in sich zusammen — mit der Erkennntis des bereits beschlossenen Ausverkaufs der Wirklichkeit wird zum ersten Mal die klaustrophobe Enge und die Unzugänglichkeit des eigenen Lebensraums bewußt und bedrohlich: Raumnot wird zum kategorischen Zustand und Paradoxon eines Zeitalters, welches sich gerade als eine Ausweitung individueller Möglichkeiten feiert.

Die effektivste und deswegen durchsetzungskräftigste Reaktion darauf ist der Appell an die Vernunft. Gefaßt in ein pedantisches Wertekorsett sucht der Bürger eine feste Position in der Gemengelage des Sinngefüges seiner Welt. Eine solche Haltung ist natürlich ein Schlag ins Gesicht der ebenfalls frisch entdeckten Empfindsamkeit, eine Maßregelung, der sich nicht jeder überlassen konnte. Besonders der Theatromane zieht die Konsequenz aus der verunsicherten und enttäuschten Umwelt, in der sich die doppelbödige Moral des „Bürgertheaters“ spiegelt. Die vom Bürger verdrängte und verweigerte Sinnlichkeit wird für ihn zur offenen Orientierung. Das Theater bietet sich als Expeditionsgefährt in eine Möglichkeitswelt an, die der Bürger bestenfalls als Zuschauer zu betreten wagt. Nach der Eroberung der Wirklichkeit durch Columbus, Cook und deren Kollegen geht die Reise des Theaterensembles nach dem shakespeareschen Wegesystem wirklich ins Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Bühnenschiff entfernt sich nicht in horizontaler, sondern vertikaler Richtung von der Realität. Im Mikrokosmos des Theaters verschmelzen das maschinelle und das seelische Getriebe des menschlichen Daseins und es entsteht ein letzter geheimnisvoller Raum für die ewigen Kinder unter uns.