Kriegsfolgen
: Die neue Pflicht deutscher Militärs

■ Verantwortung ist der Slogan der Stunde. Kaum ist der Kalte Krieg zwischen Ost und West ganz vorbei, bereiten Ideologen und Strategen für die Bundeswehr neue Aufgaben zwischen Norden und Süden vor. Nur: Wer soll das Kommando führen — die UNO, die WEU, die Nato? Oder schlicht und einfach amerikanische Freunde wie der Golf-General Schwarzkopf?

Angestrengt legte der Bundeswehroffizier seine Stirn in Falten: Einsätze deutscher Soldaten künftig weltweit, das verändere dann doch die Geschäftsgrundlage erheblich, gestand er im türkischen Erhac. Als er sich zu seiner Offizierskarriere entschloß, konnte er guten Glaubens davon ausgehen, daß sein Dienst sich auf heimisches Territorium beschränken würde. Käme nun tatsächlich eine Entscheidung für eine weitreichende Veränderung der Einsatzdoktrin, würden etliche Soldaten sich überlegen, ob sie nicht lieber den Beruf wechseln.

Der Mann in Erhac ist kein Einzelfall, die Bundeswehr ist schwer irritiert. Während die Strategen in der Hardthöhe begierig nach jeder neuen Legitimation für die weitere Notwendigkeit der nunmehr vereinten deutschen Armee greifen, hat die Truppe den Verlust des eigentlichen Feindbildes noch längst nicht verwunden. Doch statt die Diskussion um Sinn und Unsinn der zukünftigen Streitkräfte in Ruhe führen zu können, hat der Golfkrieg bereits jetzt Fragen der Nach-Kalter-Krieg-Ära aufgeworfen, auf deren Beantwortung die deutsche Außenpolitik überhaupt nicht vorbereitet ist. Früher als erwartet sieht sich die für den Ost-West-Konflikt aufgebaute deutsche Armee nun mit dem Problem konfrontiert, welche Rolle ihr im zukünftigen Nord-Süd-Konflikt zugedacht wird. Gleich drei Institutionen konkurrieren dabei miteinander.

Die Konkurrenz um die Waffengewalt

Die UNO liegt für diese Aufgabe derzeit in der Gunst deutscher Politiker weit vorn. „Friedenseinsätze der Völkergemeinschaft“, da kann doch eigentlich niemand etwas gegen haben. Aber welche „Friedenseinsätze“ sind überhaupt gemeint? Der Normalfall für UNO-Friedenseinsätze sind die sogenannten „Blauhelme“, die auf Anforderung des UN-Generalsekretärs in Krisengebiete geschickt werden, um beispielsweise unter Führung eines finnischen Generals einen Waffenstillstand zu überwachen oder eine Pufferzone zu bilden. Diese Truppen greifen nicht aktiv in einen Konflikt ein und sind jedenfalls nicht diejenigen, die die Rolle der „Weltpolizei“ übernehmen könnte, von der jetzt immer wieder die Rede ist.

Der zweite Fall einer „Friedensmission“ ist das, was in den letzten sechs Wochen am Golf zu bewundern war. Strenggenommen war dies kein UN-Einsatz, sondern eine UNO-Ermächtigung für jeden Staat, der sich davon angesprochen fühlt, die Resolutionen des Sicherheitsrates notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.

Der dritte Fall ist in der Geschichte der UNO bislang reine Theorie. Der UN-Sicherheitsrat kann eine militärische Durchsetzung einer Resolution unter der militärischen Leitung der UNO beschließen. Zu diesem Zweck gibt es einen dem Sicherheitsrat verantwortlichen Militärrat, der das Kommando übernehmen würde, bisher aber nie in Aktion trat. Der Grund dafür ist einfach: Jedes Land, das Tausende von Soldaten in den Krieg schickt, will sich die Entscheidung über Leben und Tod seiner Truppen sichern. Im Spektrum der bundesdeutschen Parteiendebatte scheint die Mehrheit von SPD und FDP zur Zeit jedoch just diese Variante zu favorisieren. Dem SPD-Mainstream reicht ein „Blauhelme-Einsatz“ angesichts der neuen „weltpolitischen Verantwortung“ nicht mehr aus, und die FDP-Fraktion schreckt noch davor zurück, die deutsche militärische Selbstbeschränkung völlig zur Disposition zu stellen.

Vor allem nach der Schelte aus Washington wollen sich die CDU-Außenpolitiker darauf jedoch nicht mehr einlassen. Eine Grundgesetzänderung, so ihr Verteidigungspolitischer Sprecher Lamers, die der Bundeswehr nur neue Fesseln anlegt, komme für die Union nicht in Frage. Um die Notwendigkeit einer weitreichenden Grundgesetzänderung zu unterstreichen, hat Generalsekretär Rühe jetzt verstärkt auf die andere Ebene der supranationalen Einbindung hingewiesen. Auf dem Weg zu einer Politischen Union Europa muß die Bundeswehr in eine europäische Armee mit eingebracht werden können. Wie schon in der Frage des Asylrechts wird nun auch beim Militär damit argumentiert, die Sicherheitspolitik dürfe sich auf Dauer nicht von anderen europäischen Nationen unterscheiden. Deutschland müsse wie Frankreich oder Großbritannien in der Lage sein, europäische Interessen auch „out of area“ zu vertreten.

Der Rahmen dafür könnte die Westeuropäische Union (WEU) sein, die nach Gründung der Nato in den 50er Jahren faktisch zur Bedeutungslosigkeit verkam und nun wiederbelebt werden soll. Dem Verweis auf die EG wird sich auch die SPD auf Dauer nicht entziehen können, schließlich wollen auch die Sozialdemokraten die Vereinigten Staaten von Europa. Daß Frankreich und Großbritannien sich jedoch darauf verpflichten ließen, europäische Truppen nur innerhalb Europas einzusetzen, wagt sich in Bonn erst gar niemand vorzustellen. Denkbar sei allenfalls, eine Wehrpflichtigenarmee für den Hausgebrauch und gleichzeitig eine Berufsarmee als weltweit einsetzbare Schnelle Eingreiftruppe zu bilden, in die dann jeder Bürger der EG eintreten könnte. Völlig im Hintergrund bleibt bei der derzeitigen Diskussion das supranationale Militärbündnis, dem die Bundesrepublik bereits seit 35 Jahren angehört. Eine mit militärischen Kompetenzen ausgestattete EG sei kein Konkurrenzunternehmen zur Nato, befand Rühe kurz und bündig und ohne nähere Begründung. Äußerungen des amtierenden Nato- Generalsekretärs Wörner lassen vermuten, daß die Brüsseler Nato-Hierarchie das ganz und gar nicht so sieht. Aus Sicht der Nato soll die WEU bleiben, was sie ist. Aus US- amerikanischer und damit aus Nato-Sicht steht sowieso eine ganz andere Entscheidung an: Die Beschränkung der Organisation auf die Territorien ihrer Mitgliedsländer soll weg und sogenannte „out of area“-Einsätze angesichts der neuen Weltlage möglich werden. Damit wäre Bonn vor eine klare Entscheidung gestellt, und Wörner müßte nicht noch einmal mitansehen, wie der Westen „glänzende Siege“ erringt, ohne daß die Nato dabei überhaupt vorkommt. Jürgen Gottschlich