: Ein Film für Mia
Ein Gespräch mit Woody Allen über seinen neuen Film „Alice“, New York und die USA ■ Von Irene Bignardi
taz: Warum haben Sie ein weiteres Mal einen weiblichen Standpunkt eingenommen?
Woody Allen: Weil es beim Schreiben häufig geschieht, daß ich mir Frauenrollen ausdenke, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich Frauen interessant finde. Wenn ich beim Schreiben einer Geschichte an mich denke, gelingt es mir nicht, über Frauen zu schreiben.
Schreiben Sie oft mit dem Gedanken an sich selbst als Schauspieler?
Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe die Geschichten auf, die mich interessieren, und manchmal kommt es vor, daß ich darin eine Rolle für mich finde. Bei „Alice“ war das nicht der Fall.
Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich weder in der Rolle des von William Hurt dargestellten hinreißenden Ehemanns gesehen haben noch als den leidenschaftlichen Liebhaber, den Joe Mantegna spielt, oder gar als den chinesischen Akupunkteur?
Ich meine, es ist ein Film für und mit Mia.
Mit dem merkwürdigen Ergebnis, daß, während alle, die für Sie typische Atmosphäre jüdischen Humors erwarten, „Alice“ von Personen mit einem katholischen Hintergrund und deren daraus resultierenden Problemen handelt.
Ich glaube, das Publikum neigt dazu, der Tatsache, daß ich Jude bin, zuviel Bedeutung und Gewicht beizumessen. Zufälligerweise bin ich Jude, aber auch New Yorker und ein Amerikaner. Vielleicht kenne ich die jüdische Kultur ein wenig besser als andere, weil ich in dieser Umgebung groß geworden bin. Aber ich halte mich nicht für einen „Schlemihl“. Ich begnüge mich damit, das Jüdische als Inspirationsquelle und Ausgangspunkt komischer Situationen anzusehen. Und die Leute wissen nicht, daß ich das katholische Milieu genausogut kenne, mit dem ich schließlich auch Tür an Tür aufgewachsen bin. Wie auch immer, mit „Alice“ wollte ich eine realistische Figur schaffen, und da Mia nun mal Katholikin ist, habe ich diesen Stoff gewählt. Andererseits war ich vom Katholizismus immer fasziniert: In „Hannah und ihre Schwestern“ spielte eine meiner Figuren mit dem Gedanken zu konvertieren, erinnern Sie sich nicht mehr?
Akzeptieren Sie die Definition, derzufolge Sie ein „Künstler neurotischer Ängste“ sind?
Nun, es wäre schwierig, das zu leugnen. Ich stimme dem zwar nur ungern zu, aber zweifellos spiegelt meine Arbeit, bei der es sich ja schließlich um meine Interpretation, meine Themen handelt, viele dieser Ängste wider.
Sie haben immer betont, daß Ihr Kino reine „Unterhaltung“ sei. Dennoch vermute ich, daß sich darin auch eine so verwerfliche Sache wie eine Botschaft befindet.
Man tut gut daran, dies zu vermuten.
Und diese Botschaft könnte die Betonung der Empfindsamkeit und der Kultur sein, angesichts des Stumpfsinns und der Verrohung der heutigen Welt.
Es ist weniger eine grundsätzliche als eine immer wiederkehrende Botschaft. Ich habe auch Filme gemacht, die keinen Bezug zu diesem Komplex haben, zum Beispiel „The Purple Rose of Cairo“, in dem es um die Notwendigkeit ging, zwischen Realität und Phantasie zu wählen, und um den Zwang, die Wirklichkeit zu wählen, da man andernfalls verrückt würde. Wenn man sich jedoch für die Wirklichkeit entscheidet, läuft man Gefahr, verletzt zu werden. Ich gestehe allerdings, wenn Sie mich bitten würden, Ihnen die grundlegenden Ideen meines Kinos zu nennen, müßte ich passen.
Wie ist es Ihnen gelungen, Hollywood fernzubleiben?
Ich lebe in New York, und meine Antipathie gegen Kalifornien ist bekannt. Auch die Tatsache, daß die Herstellung meiner Filme wenig kostet, daß sie weder große Verluste verursachen, aber auch keine großen Summen einspielen, hat dazu beigetragen, mich von Hollywood fernzuhalten. Deshalb wohl verspüren die mächtigen Filmgesellschaften nicht den Wunsch, mich zu umwerben.
Ich arbeite gerne, es würde mir nicht gefallen, nur alle drei Jahre einen Film zu drehen. Alle sind mit meiner Art zu arbeiten zufrieden: Sie wissen, daß ich kein Verrückter bin, das Budget nicht verdreifache oder etwa einen Film nicht fertigstelle. Meine Produktionen beinhalten keine großen Risiken. Insgesamt stelle ich eine gute Investition dar, vorausgesetzt, ich arbeite auf meine Art.
Und wie gelangen auf die Besetzungslisten ihrer Filme Namen wie zum Beispiel in „Alice“ — William Hurt, Joe Mantegna und Cybil Sheperd?
Indem die Schauspieler mich wissen lassen, daß sie mit mir arbeiten wollen. Sie haben es alle satt, Kino für Kinder zu machen. Sie akzeptieren, wie auch Mia, niedrige Gagen für eine befriedigende Arbeit und eventuell nur eine kleine Rolle. Wissen Sie, ich zahle mir selbst nichts aus. Ich erhalte Geld — zwar nicht viel —, wenn der Film etwas einspielt.
Haben Sie jemals — real oder in einem Film — daran gedacht, die Stadt zu verlassen?
Niemals. Es besteht eine Affinität zwischen der Stadt, ihren Menschen und mir. Von Zeit zu Zeit kommt es vor, daß mir Filme gefallen, die nicht in der Stadt spielen, zum Beispiel diejenigen Kurosawas. Aber ich könnte nie etwas derartiges machen. Auch wenn ich mich jetzt ab und zu widerstrebend und vorsichtig der Natur nähere. Mia hat ein Haus in Connecticut ...
Heißt das, Sie lieben die Natur nicht?
Genau, warum sollte ich? Sie ist feindselig, unwirtlich, während die Kultur und die gesellschaftlichen Errungenschaften mir ein Gefühl des Trostes geben.
Aber die Zivilisation wird immer unzivilisierter.
Deswegen befinde ich mich in einer Krise.
Und was, glauben Sie, sollte ein Intellektueller tun angesichts dieser Verrohung?
Ich denke, die Intellektuellen können nur fortfahren mit der Suche und dem ständigen Aufzeigen geltender Werte. Darüber hinaus können sie hoffen, damit die charismatischen Persönlichkeiten zu beeinflussen, die zwischen ihnen selbst und den Menschen stehen.
Was erachten Sie als den größten Vorzug und den schlimmsten Mangel Ihres Landes?
Sein größter Vorzug besteht in der Tatsache, von einer Gruppe brillanter Köpfe gegründet worden zu sein, die ihm eine außergewöhnliche, mustergültige Verfassung gaben. Der größte Fehler besteht darin, daß diese brillante Verfassung nicht umgesetzt und die darin enthaltenen unendlichen Möglichkeiten nicht bestmöglich genutzt wurden. Dies ist ein Land voller Elend, mit niedrigstem Bildungsniveau, vergiftet durch rechte rassistische Vorurteile, durch Vorurteile gegen Metropolen und gegen Intellektuelle. Gemessen an ihren Möglichkeiten sind die derzeitigen Bedingungen der Vereinigten Staaten ein wirkliches Verbrechen...
In „Manhattan“ zählten Sie Ihre persönliche Liste von Dingen auf, die das Leben lebenswert machen: darunter der alte Groucho Marx, Joe Di Maggio, der zweite Satz der „Jupitersinfonie“, „Potato Head Blues“, schwedische Filme, die „Lehrjahre des Gefühls“, Frank Sinatra und „Cézannes unglaubliche Äpfel und Birnen“. Ist mittlerweile etwas Neues hinzugekommen?
Wenn Sie sich auf kulturelle Aspekte beziehen, liebe ich noch immer die gleichen Dinge. Aber es gibt da etwas Neues, das mir mein Leben lebenswerter macht. Meine zwei Kinder. Ich wurde zweimal Vater, mit 50 und 52 Jahren. Und diese zwei Kinder haben mein Leben stark verändert. Nicht etwa, daß ich optimistischer dächte, im Gegenteil, ich fühle mich verletzbarer. Ich betrachte sie, während sie so ruhig und sanft schlafen, und denke, daß sie noch nicht wissen können, in welch einer Welt sie leben und was sie da draußen erwartet.
Aber aus der einfachen Tatsache ihrer Existenz resultiert eine zweifache Wirkung. Sie haben es erreicht, daß ich den Menschen gegenüber nachsichtiger bin. Und sie haben mich dazu gebracht, mich mehr mit mir selbst zu befassen. Schließlich habe ich jetzt nicht mehr den Ausweg des Selbstmordes. Zu viele Menschen würden darunter leiden.
Zum ersten Mal erscheint ein leises ironisches Lächeln auf seinem Gesicht.
Copyright: 'La Repubblica‘
Aus dem Italienischen von Eva Stiehle
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