: Schiiten und Kurden: wenig gemeinsam
■ Pierre Martin, Irak-Spezialist, über schiitische Bewegung und Kurden im Irak INTERVIEW
Frage: Welche Strömungen gibt es in der schiitisch-islamistischen Bewegung im Irak?
Pierre Martin: Die schiitisch-islamistische Bewegung, die neben den Kurden und den Kommunisten die wichtigste Kraft der irakischen Opposition ist, setzt sich aus einer Vielzahl von Organisationen zusammen, die alle einen religiösen Schutzpatron im Exil haben. Der Oberste Rat der islamischen Revolution im Irak repräsentiert offiziell die Gesamtheit dieser Bewegung. Dieser Rat wurde 1981 in Teheran gegründet, sein Vorsitzender ist Hodjatoleslam Mohammad Bakr-al-Hakim. Die Familie al-Hakim ist im Irak sehr angesehen. Aus ihr sind zahlreiche Ulemas (islamische Rechtsgelehrte) hervorgegangen, der berühmteste unter ihnen war der Großajatollah Muschin- al-Hakim, der in den 50er und 60er Jahren für eine Mehrheit der Schiiten die höchste religiöse Instanz war. Daß nun einer seiner Söhne heute an der Spitze der religiösen Bewegung steht, hat eine große symbolische Bedeutung. Hodjatoleslam Mohammad Bakr-al-Hakim lebt in Teheran und gehört zur Troika, die die schiitisch-islamistische Bewegung anführt. Die andern sind Muhammad Taqi Schirazi, der die Organisation der Islamischen Aktion von Damaskus aus vertritt, und Scheich al- Asafi, der in London lebende Chef der Partei Al-Dawa.
Wenn die Iraker heute demokratisch wählen könnten, wofür würden sie sich aussprechen?
Heute, wo das System, das seit 1920 vorherrscht, sich einmal mehr als unfähig erweist, die Probleme des Landes zu lösen, würde sich wohl eine Mehrheit für einen islamischen Bundesstaat aussprechen. Auf jeden Fall wäre der Nationalstaat infrage gestellt. Ein Staat, der sich nicht mehr als arabischer, sondern als islamischer definieren würde, könnte die Kurden, die Moslems sind, zufriedenstellen, wenn sie innerhalb des Staates über eine wirkliche Autonomie verfügen würden. Aber der islamische Staat im Irak müßte anders aussehen als im Iran, um der komplexen ethnischen und religiösen Zusammensetzung des Landes gerecht zu werden.
Welche Chancen sehen Sie für eine Koordination zwischen den schiitischen Revolten im Süden und den kurdischen im Norden?
Das kurdische Gebiet und das schiitische Gebiet sind durch eine Region getrennt, in der sunnitische Araber die übergroße Mehrheit sind. Das sind zwei sehr verschiedene Gebiete, wo es ganz verschiedene Ideenwelten gibt. Daß bisher keine Exilregierung gebildet wurde, zeugt von Divergenzen innerhalb der Opposition. Die einzige Formel, auf die man sich einigen konnte, war die einer demokratischen Regierung, aber man weiß, daß keine dieser Kräfte demokratisch ist. Interview: L. Millot,
'Libération‘
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