: Ein Glücksfund
■ Splitter von Ruth Tassoni
Texte wie Filmbilder, schwarz-weiß, versehen mit Überschriften — „Vor-Orte“, „Wandsbeck — und was wußten wir schon?“, „Uelzen“, „Jiddische Lieder“. Texte, nur zwei, drei Seiten lang. Klar, voll Rücksicht und Hingabe. Beinahe eine Meditation. Sprache, die tief anrührt und nachklingt. Manchmal möchte man weinen, wenn man eine Seite umschlägt — so sehr berührt das Gelesene. Eigenartig. Ein mir unbekannter Name: Ruth Tassoni. 1908 in Berlin geboren, Kindheit in einem Ort nahe Hamburg und in der Heide. Dissertation in Wien. Flucht. Evakuierte Verwundete der internationalen Brigaden in Spanien. Erneute Flucht. Paris, 1938. Später, 1940, USA, wo sie in Pennsylvania unterrichtete. Übersiedelte 1950 nach Italien, schrieb auf englisch, unter anderem für den 'New Yorker‘.
Sie lebt noch immer dort in Italien, in Bergamo.
Lichtpunkte — Autobiographische Splitter heißt dieses kleine Buch. Splitter, gewiß. Die jüdische Mutter, die mit Ruth und der Schwester über die Pfaueninsel bei Berlin spaziert, die ihr Herz spaltet und sich vergißt im Schritt der Königin Luise, die sie so sehr liebt. Die Gärten der Kindheit. Die Landschaft der Heide. Fenster. Der Ort Uelzen. Ein böser Ort. Ich kenne ihn. Und die Spucknäpfe im Amt des Vaters, der verhungerte und den man schaßte, weil er die Frau nicht verriet.
Albacete. Die gefallenen, verwundeten jungen Brigadisten. Wir wissen so wenig davon. Letztens war ich auf den Todesfeldern des Ersten Weltkrieges im Elsäßischen, Vieil Armand. Aus der Erde wuchs Eisen. Man ging über einen Boden aus Knochen und Gras und sah Inschriften und Verzweifeltes, und ein Apfelbaum wuchs, mit harten winzigen Früchten, die süß schmeckten.
Wie wenig weiß man. Albacete. Murcia. Die jiddischen Lieder. Zwei Männer hören sie in einem jüdischen Cabaret in Wien Ende der zwanziger Jahre. Sie haben das Lokal aufgesucht, um sich konspirativ zu beraten. Ruth Tassoni sitzt bei ihnen. Die Männer achten nicht auf das, was gesungen wird. Ruth Tassoni aber hört zu. Das Lied vom Dudele.
Beide Männer werden umkommen. Der eine bei einem Flugzeugattentat — er ist auf dem Weg zur ersten Dritte-Welt-Konferenz afroasiatischer Länder; der andere wird das Opfer stalinistischer Säuberung.
Ruth Tassoni erinnert. Sie singt das Lied vom Dudele. Das ganze Buch hindurch singt sie es. Wehmütig, nie sentimental. Orte. Fenster. Gärten. Treppen. Atemholen. Und immer ist ein Licht und ein Morgen, und die Gesichter der Menschen, die sie einmal begleiteten und von denen einige so graumsam umkamen, färbt ein weißer heller Himmel.
Ein Glücksfund, dieses Buch. Anna Rheinsberg
Ruth Tassoni: Lichtpunkte · Autobiographische Splitter ; Pendo Verlag; geb., 119 Seiten; 26 DM
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen