Über die Stuben- und Seelenenge hinaus

■ Ein Gespräch mit Prof. Paul Schalich, Hansgünther Heymes ältestem Mitarbeiter, über Heyme und die Kraft des Motivierens

Der Regisseur Paul Schalich, geb. 1935, war fester HeymeMitarbeiter seit 1977. Heute ist er Professor an der Folkwang- Hochschule in Essen. Schalich gibt Auskunft über den Theatermacher Heyme.

Günther Erken : Du bist Heymes ältester Regie-Mitarbeiter. Worin liegt denn nun das Eigene, das Besondere von Heyme?

Es liegt schon darin, daß er Stücke danach wählt, was sie in der heutigen Gesellschaft an Unbequemen zu sagen haben. Zu dieser Was- und Wozu-Frage muß man Theaterleute, die sich gewöhnlich auf das Wie beschränken, ja erst einmal hinführen.

Für Heyme ist das Suchen nach politischen Inhalten und dafür angemessenen Vermittlungsformen das Primäre. Er begnügt sich dabei nicht mit der Formel und dem Plakat. Auch die eindeutige Aussage will differenziert erarbeitet sein, und dazu motiviert, daran beteiligt er. Er hat mit Theater einfach mehr vor als nur zu zeigen, was er kann.

Kannst du die Verbindung von Regieabsicht und Stückwahl noch konkreter beschreiben?

Heyme hat kein Interesse am Abbildrealismus und am rein Individualpsychologischen, zumindest bleibt er dabei nicht stehen, sondern zielt über die Stuben- und Seelen-Enge hinaus auf größere Zusammenhänge, auf Politisches im weitesten Sinn, auf Geschichtliches, auch auf den Mythos als gesellschaftliche Chiffre, auf „der Menschheit große Gegenstände“.

So liegen ihm Stücke der Antike, des Barock oder Schillers besonders nahe. Wenn er sie wählt, sucht er vor allem das „Chorische“. Das ist nicht nur als literarische Kategorie gemeint, sondern als die objektivierende Instanz in Stück und Inszenierung, die das übergreifende gesellschaftliche Interesse reflektiert.

Nicht von ungefähr hat Heyme gerade als Regisseur von Chören immer beeindruckt. Sie sind bei ihm keine gedrillten Verkünder von Slogans, sondern Medien einer sensiblen Artikulation jenes allgemeineren Interesses oder auch heutiger Haltungen, natürlich rhythmisch geformt und herausgehoben.

Im antiken Drama findet Heyme Chöre aller Spielarten, und ich erinnere mich, wie er in Kalkutta gerade über den Chor der Gruppe und dem Publikum diese fremde Antigone aufgeschlossen hat. Wo er es im Stück nicht augenfällig vorfindet, führt er „Chorisches“ ein, oder besser: formt er Figuren und Texte zu chorischen um, so schon beim Wallenstein, so beim Tell, selbst im Demetrius und Don Carlos gab es solche Elemente und Momente. Marat/Sade hat er offenbar vom Kollektiv her aufgeschlüsselt, und durch Faust 1 und die Sihanouk-Abende zieht sich, fast ständig präsent, die Aktionsgruppe des Jugendclubs. Noch einmal: Ich meine nicht Massenregie, Einpeitschen von Sprechchören, Agitprop.

Ich würde das von dir umschriebene Chorische sogar in der Art sehen, wie Heyme manchmal Musik verwendet, als Träger von Emotionen, die sich sammeln und einen.

Es gibt die subtilsten Formen dieses chorischen Prinzips. Beispiel ist auch, wie Heyme einen Stückschluß in die Gegenwart des Theaterabends überführt.

Ja, im „Nathan“, wo die Figuren sich plötzlich Kostüme der Lessingzeit überwerfen und aus historischer Ferne einen Märchenschluß anbieten, als Aufforderung zum heutigen Überdenken.

Für mich war das am stärksten in der Mephisto-Inszenierung: Der eingespielte Schlußapplaus des Theaters im Theater provozierte den realen Schlußapplaus des Stuttgarter Publikums und unterläuft ihn zugleich, indem er anhält und damit seine Bedeutung ändert. Dann werden die Türen von außen geöffnet und die Zuschauer in eine paradox inszenierte halbfiktionale Wirklichkeit entlassen: Während Beethovens Ouvertüre Die Weihe des Hauses sie im Foyer empfängt, schreiten sie über, vielmehr treten sie auf die mit Kreide auf den Bodenvelour geschriebenen Namen der Künstler, die durch die Nazis umgekommen sind.

Betreibt Heyme mit Schauspielern auch eher Gruppenarbeit?

Es hat manchmal den Anschein, als ließe er sich mit ihnen nicht so direkt und charismatisch ein, wie man das nach den Regieklischees erwartet. Im Verfolgen der gesamten Probenarbeit entdeckt man aber, wie genau und persönlich er sich mit jedem einzelnen beschäftigt, wie behutsam, fast verdeckt, er alle zur besten Entfaltung ihrer Möglichkeiten führt.

Setzt er nicht manchmal noch Regie obendrauf?

Nicht als i-Punkt oder Signal „Ich bin auch da!“ Es gibt solche Verdichtungen, wie du sie jetzt sicher meinst, doch sie sind sogenannte Einfälle des Regisseurs und auch nicht vorkonzipierte Ausdrucksstationen, sondern Korrekturen des mit den Schauspielern gemeinsam Gefundenen, Verschärfungen dessen, worauf die Arbeit ohnehin zulief.

Heyme skulpiert zum Beispiel gerne wie ein Bildhauer Gruppierungen in engster Berührung, so als müsse eine Beziehung zwischen Figuren in einer extremen Situation dem Bildgedächnis eigens eingeschrieben werden. Das sind Momente formalen Arbeitens, die dann aber von allen mitvertreten werden.

Worin unterscheidet sich Heymes Regiearbeit mit dem Jugendclub von der mit seinem Ensemble?

In der Textarbeit, die für ihn sonst das A und O ist, korrigiert er die Laien nicht auf Professionalität hin, sondern kümmert sich vor allem um Textverständnis und rhythmisch-emotionale Gliederung. Da die Jugendlichen noch

„Für mich war das am stärksten in der 'Mephisto'-Inszenierung. Der eingespielte Schlußapplaus unterläuft den realen. Dann werden die Türen von außen geöffnet und die Zuschauer entlassen in eine paradox inszenierte halbfiktionale Wirklichkeit. Während Beethovens Ouvertüre 'Die Weihe des Hauses' sie im Foyer empfängt, schreiten sie über, vielmehr treten sie auf die mit Kreide auf den Bodenvelour geschriebenen Namen der Künstler, die durch die Nazis umgekommen sind.“

wenig auf bürgerliche Verhaltensweisen fixiert sind, nutzt er ihre Möglichkeiten zu sinnlicherem Ausdruck. Und da es bei ihnen kaum Filmfeindschaft oder Fernsehabstumpfung gibt, kann er ihre Medienerfahrung positiv gebrauchen, um Phantasieräume zu erkunden.

Vor allem aber: Seine Kraft des Motivierens ist noch offensichtlicher, weil auch die Begeisterungsfähigkeit der Jugendlichen größer ist.

Interview: Günther Erken