: „Das Innenleben der Partei degenerierte zum permanenten Kriegszustand“
■ Offener Brief von Petra K. Kelly an die grüne Partei: „Zuallererst sind wir menschlich gescheitert“/ Weg von der Griesgrämigkeit und Selbstzerfleischung
[...] Warum haben die WählerInnen am 2. Dezember die vorausschauende ökologische Politik der Grünen nicht mehr honoriert? Obwohl unsere Positionen, sehr oft in frustrienden Sitzungen mühsam erkämpft, auch in vielen anderen Problembereichen tragisch bestätigt worden waren, wie durch das Desaster von Tschernobyl, die Vergiftung von Abertausenden durch westliche Konzerne in Bhopal, die fortschreitende Vernichtung der Regenwälder, den Treibhauseffekt, den toxischen Holocaust, der die Zahl der Krebskranken in die Höhe treibt, und den immer häufiger eintretenden Verkehrsinfarkt, um nur diese Beispiele zu nennen.
Warum wurde nicht anerkannt, daß wenigstens ein Teil von uns — ich gebe zu, er wurde immer kleiner — sich mit gewaltfreien Aktionen immer wieder eingemischt hat, wo Unruhe und unkonventionelles, freches Auftreten nötig war, um auf Mißstände aufmerksam zu machen?
[...] Ich glaube, daß wir zuallererst menschlich gescheitert sind. Dabei hatten wir ohnehin eine sehr lange Schonzeit gehabt. Aber acht Jahre Selbstzerfleischung und fruchtlose, die politischen Aktivitäten lähmende Flügelkämpfe mit den jeweiligen Flügelmullahs und ein unerträgliches, von Neid und Mißtrauen geprägtes Klima waren auch dem grünsten Wähler zu viel. Es konnte eben nicht gutgehen, wenn unser Umgang miteinander häufig mehr Aufsehen erregte und Schlagzeilen machte, als die Ziele und Inhalte unserer Politik. Als jemand, der von der allerersten Stunde an die Grünen mitgegründet und mitaufgebaut und all seine Kraft und Energie in das grüne Projekt als Anti-Parteien-Partei gesteckt hat, habe ich miterlebt (ohne es verhindern zu können), wie das Innenleben der Grünen-Partei zu einem permanenten, ideologischen Kriegszustand zwischen den verschiedenen politischen Strömungen degnerierte. [...]
Die Wahlniederlage vom 2. Dezember 1990 muß zum Startpunkt einer völlig neuen Lernphase für uns Grüne werden, wenn wir bundesweit überleben und in vier Jahren wieder in den Bundestag zurückkehren wollen. Dabei muß endgültig mit Mißständen, Fehlentwicklungen und manchen Fetischen Schluß gemacht werden, die ich schon sehr lange, zum Unwillen selbsternannter grüner Politkommissare, kritisiert und bekämpft habe.
Das gilt in erster Linie für gewisse Strukturen, die trotz negativer Erfahrungen gegen jede Vernunft je nach Bedarf und Opportunität hochgehalten wurden. Zum Beispiel für die Rotation, deren verheerende Auswirkung sich schon in der ersten Legislaturperiode gezeigt und der Effizienz unserer Arbeit im Bundestag geschadet hat. Denn die mit einer Rotation nach zwei Jahren zwangsläufig heraufbeschworene Konkurrenzsituation zwischen Abgeordneten und Nachrückern hat die grüne Bürogemeinschaft in Bonn von Beginn ihrer Tätigkeit an stark belastet und eine von gegenseitigem Mißtrauen vergiftete Atmosphäre erzeugt. Mit der Vierjahresrotation entfiel zwar das Nachrückerproblem, doch war nun der Sinn der Sache noch weniger einzusehen, da die Praxis der Kandidatenaufstellung vor jeder Legislaturperiode ja schon genug Möglichkeiten bot, Kandidaten abzuwählen. [...]
Auch der permanente Mißbrauch der Begriffe „Basisdemokratie“ und „Basis“ muß endlich einer demokratischen Definition des Basisbegriffs Platz machen. „Basis“ ist nicht nur die Gesamtheit derer, die im Augenblick anwesend sind und sich dafür halten. Zur „Basis“ gehören selbstverständlich auch all jene, für die sich grüne Politik stark macht und die diese Politik, gleich ob Mitglied oder nicht, unterstüzten. Wer sich noch an das leidige „Kindersexpapier“ in NRW erinnert, weiß, welcher Schaden durch eine als Basisdemokratie verkaufte Minderheitendiktatur damals entstanden ist.
Ein anderer Fetisch, mit dem Schluß gemacht werden muß, ist der beliebte Basissport der Prominentenjagd, mit dem ich selbst sehr beklemmende und demotivierende Erfahrungen gemacht habe. Es ist schon ziemlich perfide, wenn vorhandene Erfahrung und Kompetenz in grünen Themen, die dann natürlich auch einen größeren Bekanntheitsgrad zur Folge haben, zwar gerne dazu ausgenützt werden, um Veranstaltungsräume zu füllen, aber gleichzeitig zum Anlaß genommen werden, um den Betreffenden für sein Engagement gewissermaßen zu bestrafen, indem man ihn oder sie als „Promi“ denunziert und diffamiert. Ganz abgesehen davon, daß dieses Verfahren bei der sprichwörtlich dünnen Personaldecke unserer Partei auch ausgesprochen unökonomisch ist. Es führt, wie Gert Bastian bei seinem Fraktionsaustritt mit Recht gesagt hat, zu einer regelrechten „Diktatur der Inkompetenz“, wie sie sich keine Partei leisten kann.
Hoffentlich erinnern sich noch einige an den beschämenden Umgang grüner Basishüter mit Menschen wie Heinrich Böll, der für jeden grünen Appell und jede grüne Blockade gut genug gewesen war, aber nach seinem Tod auf einer grünen Bundesversammlung als „Chauvi“, „Übervater“ und „Humanitätsdusler“ beschimpft wurde. Oder wie Joseph Beuys, ein urgrüner Vordenker, der bei einer Kandidatenaufstellung in NRW durch zehn Wahlgänge gedemütigt und nicht aufgestellt wurde. Wieviele wertvolle Menschen, die grüne Inhalte transportieren und vermitteln konnten, sind auf ähnliche Weise wohl sonst noch abgeschreckt worden und uns verloren gegangen. Und wieviele werden noch gehen, wenn das so anhält?
Eine weitere unheilige Kuh, die viele nicht öffentlich schlachten wollen, die aber auch nicht unangetastet bleiben darf, ist die Art und Weise, wie die „freiwilligen“ Spenden von Abgeordneten eingefordert werden. Wenn mündige Menschen ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich vertrauen, bedarf es keiner Kontrollmechanismen und keiner aufdringlichen Verletzung ihrer Privatsphäre, um „Spenden“ für grüne Projekte zu erpressen. Es wäre weit effektiver und menschenwürdiger, wenn nur ein für alle Lebensverhältnisse tragbarer Sockelbetrag verpflichtend wäre und darüber hinausgehende Spenden nach Höhe und Zweckbestimmung dem Einzelnen überlassen blieben. [...] Die Art und Weise der Abgabenpraxis zeigt von der inhumanen Mißtrauenskultur, die in der grünen Partei überwunden werden muß.[...]
Ich habe versucht, mich vor allem auf die verfehlten Strukturen zu konzentrieren, da sie am allermeisten abschreckend, ja abstoßend wirken. Was die politische Ausrichtung angeht, so setze ich darauf, daß die Grünen in den Kreis- und Landesverbänden nach dem Schock des 2. Dezember zurückfinden zu den authentischen grünen Prioritäten in allen Politikbereichen und weiterhin an den „grünen Säulen“, den Jahrhundertthemen kompromißlose Gewaltfreiheit, radikale Ökologie, unteilbare Menschen- und Bürgerrechte, soziale Emanzipation und Gerechtigkeit sowie Solidarität mit allen Schwachen festhalten.
Das heißt aber auch: Verzicht auf jeden Dogmatismus, sei er im linken Flügel oder auch im Realo-Lager angesiedelt. Die alten Flügelkampf-Zeiten müssen endlich vorbei sein, denn die grüne Partei hat weder Platz für alte linke Kadervisionen oder taktische Koalitionen mit der unglaubwürdigen PDS, noch darf sich unsere Partei zu einem Steigbügelhalter der SPD oder zu einer Art grünen F.D.P. domestizieren lassen. [...]
Auch wenn viele meinen, der von mir geprägte und vielfach mißverstandne Begriff der „Anti-Parteien-Partei“ sei längst passé, halte ich immer noch daran fest, denn Anti-Parteien-Partei bedeutet für mich eine Partei, die in der Lage ist, zwischen Moral und Macht zu entscheiden, die schöpferischen zivilen Ungehorsam jeder Art von Repression entgegensetzt, die kühne Phantasie mit effizienter Arbeit verbindet, und die den Zusammenhang zwischen dem Frieden in der Welt und dem Frieden in jedem Einzelnen begreift. Und Anti-Parteien-Parteien üben nicht Macht im alten Herrschaftssinn aus, sondern versuchen sie zu transformieren, um Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen