: Ich habe einen großen Sandkasten
Ein Gespräch mit dem Bildhauer Richard Serra ■ Von Kai Voigtländer
taz: Gibt es irgend etwas in Ihrem Werk, was man „intentional“ nennen könnte?
Richard Serra: Normalerweise fange ich an mit einem Bündel von Problemem, die ich gerne mit einer Skulptur lösen möchte. Und das Werk hat nur dann eine Bedeutung für mich, wenn es nicht allein die vorher bekannten Probleme gelöst hat, sondern noch zusätzlich etwas anderes auftaucht: ein Potential, um die Welt in einer anderen Weise zu erfahren. Meine Intention kann sich auf solche Fragen richten wie: Wie stark verändert Masse einen Raum? Oder: Wie ist es, in einem geschlossenen und in einem offenen Raum herumzugehen? Ich erwarte nicht, daß Leute die Intentionen bis zu diesem Grad verstehen. Aber wenn ich sage: Es ist ein Unterschied, ob du in ein Football-Stadion gehst oder in eine Telefonzelle, dann wird jeder antworten: Aber sicher, das verstehe ich. An diesen Unterscheidungen bin ich interessiert. Ich kann Leuten bewußt machen, daß sie haptisch antworten auf eine vorgegebene Struktur, mit ihren Köpern oder mit ihren Sinnen oder mit ihren Gefühlen oder mit ihrer Wahrnehmung.
In den letzten zehn Jahren sind die meisten Ihrer Skulpturen im öffentlichen Raum aufgestellt worden — in den USA, aber auch in Bochum, wo vor dem Hauptbahnof Ihre Skulptur „Terminal“ steht. Versuchen Sie, beim Publikum Ihrer Skulpturen eine bestimmte Art von Erfahrung zu bewirken?
Nun ja, nichts, was jemand baut, ist völlig frei. Man baut einen Stuhl, der vier Fuß hoch ist, oder man baut einen Stuhl, der dreieinhalb Fuß hoch ist, und schon manipuliert man: indem man die Leute zwingt, sich beim Setzen in verschiedener Weise zu verhalten. Das Stück in Bochum ist ein offenes Volumen, das man begehen kann. Verschiedene Leute werden mit dieser Art von Raum auf verschiedene Weise umgehen. Das hat auch viel mit dem jeweiligen Kontext zu tun. Wenn Terminal hier mitten im Bahnhofsgebiet plaziert ist, im Gefüge dieser großstädtischen Umgebung, dann wird es automatisch zu einer Intervention: Es drückt das skulpturale Potential von Wahrnehmung in diesem Raum aus. Darum kann es die Leute auch irritieren, weil das nun einmal nicht der Ort ist, an dem sie erwarten, diese Form von Erfahrung vorzufinden.
Warum haben Sie den Schutzraum des Ateliers und des Museums verlassen? Damit setzen Sie sich und Ihre Arbeit der Öffentlichkeit aus und riskieren aggressive Reaktionen.
Ich habe herausgefunden, daß meine Arbeit in einem Museum sehr oft abgetrennt ist von ihrem möglichen Potential, von allem, womit sie Wahrnehmung verändern könnte. Ich glaube, das Museum tötet die Intentionalität von Kunstwerken. Es verpackt sie und definiert sie in einem historischen Rahmen. Es gehört zur Natur von Kunst, daß ihr Potential jedermann erreichen kann. Warum soll man sie dann in diesen geschlossenen Räumen verstecken, die wirklich nur für die Machteliten gebaut worden sind? Die meisten Museen verwandeln Kunstwerke in enzyklopädische Karteikarten — man geht herum und liest in der Geschichte der Kunst. Da löst sich jede Absicht auf, eine Sprache zu verändern. Alles wird so schön gleichförmig in diesem Karteikastenkatalog des Museums.
Sie arbeiten mit einem sehr speziellen Material, mit Stahl — und Sie haben mit Blei-Skulpturen angefangen.
Es war ein bißchen anders: Ich habe angefangen, mit Gummi zu arbeiten. Das ist ein sehr flexibles Material. Ich bin dann zu schwereren Materialien übergegangen, als ich festgestellt habe, daß ich Blei genauso gut manipulieren kann. Aber eines der Probleme von Blei ist, daß es sehr weich ist und instabil. Und ich wollte ein Material haben, das man auch betreten kann, durch das man hindurchlaufen kann, das einfach eine größere Dauerhaftigkeit besitzt. Ich war mit Stahl schon sehr vertraut — als Jugendlicher habe ich immer in Stahlwerken gearbeitet, um meine Ausbildung zu bezahlen. Ich wußte viel von Stahl — und nachdem ich eine Serie von Stücken aus Gummi, Blei und anderen Materialien gemacht hatte, wollte ich zu Stahl zurückkehren. Stahl ist eigentlich ein sehr traditionelles Material in der Kunst, aber alle meine Vorgänger haben den Stahl immer geschnitten oder gefaltet oder geschweißt. Niemand hat den Stahl industriell benutzt, hat ihn benutzt aufgrund seiner Masse, wegen seines Gewichtes oder seiner Fähigkeit, ein Gewicht zu tragen. Und weil ich in der Industrie und beim Brückenbau gearbeitet hatte, hatte ich ein spezifisches Wissen darüber, wie Stahl funktionieren könnte. Also nahm ich einfach die Lektionen, die ich als Arbeiter gelernt hatte, und habe sie angewandt, um Skulputuren zu konstruieren.
Ihre Objekte sind meistens so groß, daß man sich kaum vorstellen kann, daß Sie mit den Händen an ihnen arbeiten.
Zunächst einmal suche ich den geplanten Standort auf. Ich versuche, ein Verhältnis zu diesem Platz zu bekommen und dabei so viele Informationen wie möglich aufzunehmen. Dann gehe ich ins Atelier und versuche auszuarbeiten, wie ich unter den gegebenen Bedingungen auf die Maßstäbe dieses speziellen Platzes reagieren könnte. Normalerweise arbeite ich dabei mit Modellen — ich habe einen großen Sandkasten, der es mir erlaubt, Stahlplatten in ihren Achsen und in ihren Ebenen zu bewegen. Ich baue ein Modell des Platzes und verwende dann ein sehr genaues Modell der Skulptur — wenn etwas 40 Fuß hoch werden soll, dann mache ich ein 40-Inch-Modell. Ich arbeite täglich mit diesen Modellen im Atelier und habe die hands-on-relation zu meiner Arbeit nie aufgegeben.
Gibt es Plätze, an denen Sie besonders gern arbeiten?
Ich bevorzuge Plätze, deren Kontext nicht überdefiniert ist. Das ist nicht immer möglich, und ich habe an verschiedenen Orten gearbeitet: an so hochgradig definierten Plätzen wie Kirchen oder Museen genauso wie auf Verkehrsinseln, die einfach vergessen worden sind. Die meisten der hochdefinierten Plätze sind schon im Übermaß beschriftet: mit einer vorgegebenen Ideologie oder mit einer moralischen Haltung. Ich arbeite lieber auf Plätzen, die so wenig wie möglich geprägt sind von Ideologie oder Moral. Aber es gibt immer einen Kontext, und es gibt immer Bedingungen, mit denen man sich auseinandersetzen muß.
Meine Stücke sind so gebaut, daß sie den Charakter der Plätze offenbaren. Manchmal vergrößern sie einen Platz, und manchmal offenbaren sie etwas, was in den Plätzen liegt. Und die Leute stoßen sich hart an der Skulptur, weil sie etwas offenbart, was sie unter keinen Umständen sehen möchten. Bevor nämlich die Skulptur aufgestellt wurde, konnten sie der Einsicht ausweichen, daß dieser Platz ein Ort ist, den sie sich nicht jeden Tag ansehen wollen.
Sie haben mit manchen Ihrer Arbeiten erheblichen Ärger gehabt; am schlimmsten ist es Ihnen wohl mit „tilted arc“ in New York ergangen ...
(R.S. stöhnt) Aah, müssen wir darüber auch reden...?
Ich würde einfach gerne wissen...
Also, ich mache es kurz: Die amerikanische Regierung hat bei mir eine Arbeit in Auftrag gegeben. Dann hat die gleiche Regierung versucht, dieses Kunstwerk wieder zu zerstören. Mit einer Reihe von offenen Hearings und mit faschistoiden Pressionen und Anstrengungen hat sie dann auch Erfolg gehabt. 75 Prozent der Leute, die auf dem Hearing gesprochen haben, wollten, daß tilted arc da bleibt, wo es steht. Dieses Ergebnis des von ihr selbst eingesetzten Hearings gefiel der Regierung nicht. Und darum hat sie einfach beschlossen, die Arbeit trotzdem zu zerstören. Die eigenen demokratischen Institutionen werden untergraben, wenn sie nicht die richtigen Ergebnisse produzieren. Und das spielt sich täglich ab in Amerika. Künstlerische Freiheit des Ausdrucks — das ist eine Platitüde, weil es in Wahrheit nicht existiert. Die Regierung hat so argumentiert: Ja, tilted arc ist eine öffentliche Rede [also geistiges Eigentum; K.V.]. Aber wenn wir Deine Rede kaufen, dann haben wir das Recht, sie zu zerstören.
Wie stark ist das Element der Provokation in „tilted arc“? Könnte es sein, daß die Verantwortlichen in New York sich geradezu berufen gefühlt haben, diesen Stahlbogen wieder zu entfernen?
Nein. Die Regierung wollte einfach die Politik ändern. Und sie haben die Skulptur als Prügelknaben benutzt. Genauso haben sie versucht, einen Museumsdirektor ins Gefängnis zu bringen: Der hatte eine Gerichtsverhandlung, nur weil er Fotografien von Robert Mapplethorpe gezeigt hat. Eine völlig repressive und unerträgliche Situation. Noch heute kann ich mich kaum daran erinnern ohne ein großes Maß an Bitterkeit. Es hat aber in Amerika viele Künstler alarmiert, daß sich die Regierung faktisch im Kriegszustand befindet mit ihren Bildhauern, Malern, Fotografen, Komponisten und Musikern.
Es gibt einen Text, den sie vor drei oder vier Jahren geschrieben haben, über „Schwere“. Da schreiben Sie, wir seien ständig der Angst vor unerträglicher Schwere ausgesetzt, der Schwere von Unterdrückung, von Zerstörung, von Geschichte. Das klingt fast metaphysisch und ist eigentlich untypisch für Ihren sonst betont sachlichen Stil.
Ich glaube, Sie beziehen sich da in erster Linie auf den Stil der Sprache. Und dieser Stil hat es mir ermöglicht, mein besonderes Verhältnis zum Potential von „Schwere“, von „Gewicht“ zu artikulieren. Das ist so, als wenn Sie einen Tischler bitten würden, zu beschreiben, wie er auf einen Nagel schlägt. Er kann dann von verschiedenen Nageltypen reden, von unzähligen Sorten von Hämmern, von verschiedenen Abständen seines Handgelenkes zum Tisch, von verschiedenen Widerständen in Holzsorten — und Sie können das dann ziemlich metaphysisch finden. Ich spreche in diesem Text über das Gewicht von Skulptur, und zwar so, daß es genau meinem Verständnis von der Gestaltung von Formen entspricht. Weil das so spezifisch, so charakteristisch ist, finden Sie es vermutlich poetisch.
Das Gespräch fand am 14. Januar 1991 in Bochum statt, wo Richard Serra den alle fünf Jahre verliehenen Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg erhielt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen