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Die Töne gegen Jelzin werden schärfer

In einer Kampagne in den Medien wird Jelzin für die sowjetische Geschichte verantwortlich gemacht  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Und am Abend wird in der Wremja unser Meeting überhaupt nicht erwähnt werden, oder es wird heißen, daß sich auf dem Mange-Platz ein Häufchen von Extremisten versammelt hat“, charakterisierte der oppositionelle Geschichtsprofessor Afanasjiew in seiner Rede auf der Kundgebung am Sonntag vor 300.000 Moskauer Bürgern die gegenwärtige Praxis der Hauptnachrichtensendung des gleichgeschalteten sowjetischen Fernsehens. Noch vor Monaten war die Wremja, die sowjetische Tagesschau, eine interessante Sendung gewesen, ist aber jetzt nach der Machtübernahme des Genossen Krawtschenko im Sender und dem unverhohlenen politischen Druck auf den konservativen Kurs der Führung verpflichtet. Die Wremja-Redaktion reagierte prompt: „Nein, nicht ein Häufchen von Extremisten hatte sich versammelt, sondern eine Masse“, eine „Tolpa“, ein im Russischen eindeutig negativer Begriff. Daß es sich um eine irregeleitete, hysterisierte „Masse“ handelte, daran ließ der Nachrichtensprecher keinen Zweifel. Die Fernsehzuschauer erfuhren auch nichts über die konkrete Zahl der Teilnehmer und nichts darüber, daß eine der Hauptforderungen des „Meetings“ im Rücktritt des Präsidenten Gorbatschow bestanden hatte. Und sie erfuhren auch nichts darüber, daß der Moskauer Bürgermeister Gawriil Popow dazu aufgerufen hatte, beim Referendum über den Unionsvertrag mit „Nein“ zu stimmen. Tatsächlich wäre ja auch eine Niederlage der politischen Führung im Kreml bei dieser Abstimmung in Rußland selbst eine große Gefährung für die derzeitigen Machtstrukturen. Die alten Strukturen könnten danach tatsächlich ins Wanken geraten.

Doch so weit ist es noch nicht. Nach der Demonstration vom Sonntag ist klargeworden, daß der Fehdehandschuh aufgenommen wurde. Die gleichgeschalteten zentralen Medien begannen ihren „Krieg“ gegen die russische Regierung und den Präsidenten des russischen Obersten Sowjets, Boris Jelzin. Er gewann am Sonntag abend eine neue Qualität, wobei gerade das Wort „Krieg“ besonders herausgehoben wurde. Bei einem Auftritt vor der „Bewegung Demokratisches Rußland“ am 9. März im Moskauer Haus der Filmschaffenden hatte Jelzin nämlich verlauten lassen, man müsse der Führung des Landes den „Krieg“ erklären. Wörtlich fügte er hinzu: „Die Feinde der Demokratie darf man nicht umarmen, mit ihnen muß man kämpfen, sogar, wenn es sich um Frauen handelt“. „Und das einen Tag nach dem 8. März (dem Weltfrauentag)“, bemerkte die 'Prawda‘ am Montag befremdet in ihrem Artikel „Demokratie mit eiserner Faust“.

Sie verschwieg dabei die wohlbekannte Tatsache, daß sich an diesem Tag ein Kongreß des offiziellen sowjetischen Frauenverbandes einhellig zur Unterstützung der von Gorbatschow favorisierten Version des Unionsvertrages bekannt hatte. Dies aber lehnen die in der Bewegung „Demokratisches Rußland“ zusammengeschlossenen Frauen und Männer, Gruppen und Parteien ab. Und in diesem Zusammenhang ist die Äußerung Jelzins zu sehen. Das störte aber die neuen alten Meinungsmacher im Fernsehen nicht. Eine Phalanx von Kommentatoren wurde gleich im Anschluß an die erste Meldung in die sonntagabendliche Wremja-Sendung eingeblendet, um mit Jelzin abzurechnen. Er wurde dabei fast für sämtliche Verfehlungen der siebzigjährigen Sowjetgeschichte verantwortlich gemacht: „Schon einmal hat die russische Erde die Leichen Millionen Unschuldiger aufgenommen“, erinnerte einer und ließ offen, ob dies als Drohung gemeint war, oder ob es sich um seine Einschätzung der Folgen der Politik Jelzins handelte. Die Hetze gegen Jelzin wurde in den letzten Tagen noch gesteigert, die politische Führung der UdSSR versuchte, Jelzin noch vor dem Referendum über das Fortbestehen der Union am nächsten Sonntag politisch auszuschalten.

Die Kampagne gipfelte in einem ganztägigen Hearing des Obersten Sowjets am Montag. Die Rede Jelzins wurde den Deputierten vorgespielt und der Antrag gestellt, Generalstaatsanwalt Nikolai Trubin möge die Verfassungsmäßigkeit des Auftrittes begutachten. Die in der Moskauer Öffentlichkeit erörterte Variante, daß die Sowjetregierung mit dem ersten Mann Rußlands gleich auch die gesamte russische Regierung für nicht verfassungsgemäß erklären läßt, um per Präsidenten- Ukas die direkte Präsidialherrschaft über die Russische Föderative Sowjetrepublik zu verhängen, rückt somit in den Bereich des Möglichen. Eine andere Taktik, um die russische Eigenstaatlichkeit zu unterlaufen, erwähnte am Sonntag der stellvertretende Moskauer Oberbürgermeister Sergej Stankewitsch. Ihm sei zu Ohren gekommen, daß in einigen nationalen autonomen Gebieten der RSFSR Vertreter der Zentralregierung dafür Werbung betrieben, den Vertrag direkt, ohne Hinzuziehung der russischen Regierung, zu unterzeichnen.

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