: Zwischen Anmut und Prätention
Zur Modigliani-Ausstellung in Düsseldorf ■ Von Martina Kirfel
Paris war voller Geschichten über ihn, zwischen Wahrheit und Legende bald nicht mehr zu unterscheiden. Jung, strahlend, das Erbe seines Vaters in der Tasche, tauchte er am Montmartre auf: „Es gibt nur einen Mann in Paris, der sich zu kleiden weiß, und das ist Modigliani.“ (Pablo Picasso) Auf den Lippen trug er ständig die Verse Dantes und Verlaines, in seiner Tasche steckten Lautréamonts Gesänge des Maldoror. „Und alles Göttliche an Modigliani schimmerte nur durch ein Dunkel. Er hatte den Kopf des Antinoos, und in seinen Augen war ein goldenes Funkeln — er glich niemandem auf der Welt“, sagte seine Freundin Olga Achmatova über ihn. Wenige Jahre später krepierte er am Hunger, am Alkohol, an Tuberkulose.
In den Pariser Cafés zahlte er mit Zeichnungen. Einmal brach sein baufälliges Atelier über ihm zusammen. Er wurde unverletzt aus den Trümmern geborgen. Er arbeitete mit Constantin Brancusi, diskutierte mit Pablo Picasso, Juan Gris und anderen Kubisten. „Er, der unglaublich trank, ohne Niedertracht zu zeigen“ (Jean Cocteau), war beliebt unter den Künstlern. Jeder webte an der Legende mit. So erzählte der Kritiker Michel Georges-Michel: „Modigliani liebte Utrillo sehr. Ihre erste Begegnung war höchst originell. Zuerst tauschten sie, um sich ihre gegenseitige Bewunderung zu bezeugen, ihre Jacken aus. Dann sagte der eine ,Du bist der größte Maler der Welt.‘ — ,Nein, du bist der größte Maler der Welt‘, entgegnete der andere. ,Ich verbiete dir, mir zu widersprechen‘, der eine. Es gab ein Handgemenge. Schließlich versöhnten sie sich beim Weinhändler, leerten ein paar Flaschen und tauschten noch mehrfach die Jacken. Am nächsten Morgen erwachten sie ausgeplündert im Straßengraben.“
Sein Ende beschrieb der Maler Mauel Ortiz de Zarate:
„Er war schwerkrank. Jede Woche ließ ich ihm Kohlen bringen. Dann mußte ich für eine Woche verreisen. Als ich zurück war, ging ich zu ihm. Sein Zustand war sehr schlimm. Er lag mit seiner Frau auf einem grauenhaft schmutzigen Schragen. Ich war sehr besorgt. ,Ißt du wenigstens?‘, fragte ich ihn. Da brachte man ihm gerade eine Büchse Sardinen, und ich bemerkte, daß die beiden Matratzen, der ganze Boden mit öligen Platten bedeckt war... leere Büchsen und Deckel... Modigliani, totkrank, aß seit acht Tagen nichts anderes als Ölsardinen. Als wir Modigliani zur Charité brachten, sagte er mit einer erbärmlich krächzenden Stimme: ,Ich habe nur noch ein ganz kleines Stückchen Hirn. Ich spüre genau, daß es das Ende bedeutet.‘ Und dann fügte er hinzu: ,Ich habe meine Frau umarmt, und wir sind für eine ewige Freude vereint.‘“
Wenige Tage später starb Modigliani. Er war 36 Jahre alt. Am nächsten Tag stürzte seine hochschwangere Frau Jeanne Hébuterne aus dem Fenster.
So fasziniert das Publikum über Jahrzehnte Modiglianis Lebensgeschichte in Kitschfilmen und Skandalromanen verfolgte, so interessiert scheint es heute an seinem zu Lebzeiten verachteten Werk. 1917 noch schloß ein Gendarm eine Ausstellung Modiglianis mit der Begründung, seine Akte hätten Schamhaare und seien Schund. Heute strömen in Düsseldorf Kindergartengruppen, zeichnende Schulklassen, skizzierende Malerkollegen und Seniorenzirkel in die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Werner Schmalenbach hat dort eine Ausstellung mit 61 Gemälden, neun Plastiken und 79 Zeichnungen zusammengestellt — ein Triumph der Schönheit, der Eleganz, der italianitá.
Modigliani war der letzte Bildnismaler — keiner nach ihm hat sich mit dieser Ausschließlichkeit dem malerischen Abbild, Porträt oder Akt gewidmet. Seinem fundamentalen Interesse für die Menschen, die ihn umgaben, verdanken wir eine umfassende Porträtgalerie von Künstlern, Kritikern und Sammlern der Pariser Szene, aber auch von schlichten Bürgern, seien es Dienstmädchen, Gemüseverkäuferinnen oder Bauernbuben.
Einen breiten Raum nimmt in Modiglianis Frühwerk (1910-1914) die Plastik ein. Zwei Themen beschäftigen ihn hauptsächlich: Köpfe und Karyatiden. Seine Karyatiden konstruierte er betont formal, indem er Kopf, Rumpf und Gliedmaßen stark voneinander absetzte. Es entstanden zahlreiche Entwürfe auf Papier von großer Plastizität, die er später in Stein umsetzte. Seine Köpfe orientierten sich an ägyptischer und archaischer Kunst. Es sind rätselvolle, überlängte, auf wenige feine Linien reduzierte Idole. Ihr hieratischer Charakter, ihre Geschlossenheit und Stille machen ihre Eigenart aus, die in der zeitgenössischen Plastik — außer in Ansätzen bei Brancusi — nicht zu finden sind. Die Übersteigerung der Länge weist auf Modiglianis spätere Formensprache hin, allerdings sind seine Plastiken in ihrer radikalen Reduktion weitaus „moderner“, das heißt abstrakter, als seine späteren Bildnisse; ihre Strenge schützt sie vor einem Abgleiten ins Allzuschöne.
Um 1914 wandte sich Modigliani wieder der Malerei zu. „Der Bildhauer erstarb nach und nach.“ (Ossip Zadkine) Schon vor den Skulpturen hatte Modigliani einige hervorragende Bildnisse geschaffen. Dazu gehört der Cellist (1909), eine langgestreckte feingliedrige Männergestalt, die so stark an des Künstlers Vorbild Cézanne erinnert, daß Schmalenbach vermeint, den Cellisten geradewegs zu Cézannes Kartenspieler setzen zu können. Dazu gehört auch das Bildnis des Diego Rivera (1914). Den temperamentvollen Mexikaner konstruierte Modigliani aus blauschwarzen Kugelformen, darüber setzte er das Vollrund eines dunklen Gesichts mit trägen, halbgeschlossenen Lidern. Die wulstigen Lippen umspielt ein sanftes Lächeln — ein ruhender Vulkan, unter dessen Oberfläche brodelnde Kräfte zur Eruption drängen.
Um 1915 erreichte Modigliani eine erste Hochphase in der Bildnismalerei. Er porträtierte die Pariser Avantgarde, zum Beispiel Pablo Picasso, Juan Gris, Jean Cocteau; er porträtierte seine jüdischen Künstlerfreunde aus dem Osten, Moishe Kisling, Jacques Lipchitz, Chaim Soutine und immer wieder seine damalige Geliebte Béatrice Hastings. Diese Porträts haben eine hohe Ähnlichkeit, zugleich jedoch ein starkes formales Prinzip, dem Physiognomie und Körper unterworfen werden. Die Gesichter sind linear gezeichnet mit überlangen, manchmal geschwungenen Nasen und verkleinert wirkenden Gesichtszügen. Körper und Gliedmaßen werden stark vereinfacht, häufig gelängt, Gesten oder Details pointiert. Verzärtelte Sensibilität, Arroganz, Überfeinerung schrieb er seinen Modellen ins Gesicht.
Diese Bilder sind wirklich schön: Das Inkarnat der Hauttöne, die fein abgestimmte, wenn auch nicht sehr differenzierte Farbigkeit der Kleidung und des Hintergrunds, die vornehm verhaltene, oft elegische Gestimmtheit der Dargestellten.
Doch am besten war Modigliani, wenn er seine toskanische Eleganz vergaß und seine eigenen Stilprinzipien konterkarierte. So vergröberte er plötzlich die Gesichtszüge, zum Beispiel bei Soutine, Kisling und Gris, und ließ die Körper vierschrötig werden, um die Vitalität seines Gegenübers zu betonen. Juan Gris setzte er einen Hals wie einen Turm, Elena Pavlovskas slawischen Kopf verbreiterte er zum Kürbis, und Paul Guillaumes weltmännisches Gehabe spitzte er in einer Grosz-Visage zu. Da setzte sich die Individualität der Dargestellten gegenüber den Stilprinzipien durch.
Die Freiheit zum Ausbruch aus dem selbstgefertigten Kanon verlor Modigliani jedoch im Verlauf der nächsten Jahre. Sie verkam zur Manier. Im Spätwerk, ab 1918 dominierten Frauengestalten mit „Schwanenhals und Mandelauge“. Die Körper erhielten einen gotischen Schwung, die Köpfe die typische Madonnenneigung, zwischen Anmut und Prätention. Männergestalten traten vollends in den Hintergrund. Das Elend begann mit dem Dreiviertelporträt der Anna Zborowska (1917). Modigliani längte plötzlich die Gesichtszüge noch stärker als bisher und entledigte sie der letzten individuellen Merkmale. Mit einem Schlag waren sie stereotyp und entleert — eine schöne Hülse. Diese Tendenz wirkte fort in weiteren Bildnissen, zum Beispiel bei Frau mit Hut, Sitzende mit Kind und vielen anderen.
Die Bildnismalerei befand sich mit dem Beginn der klassischen Moderne in einer tiefen Krise. Es grenzt nahezu an ein Wunder, daß Modigliani zwischen 1914 und 1920 überhaupt noch so überragende Bildnisse geschaffen hat. Die Kunstströmungen um ihn herum, Kubismus und Futurismnus, bemühten sich um die Destruktion des Gegenstands und damit auch des Menschenbildes. 1910 bereits hatte Picasso im Bildnis D.H.Kahnweiler die menschliche Gestalt vollends zerpflückt — freilich nicht aus Zerstörungswut, sondern aus Interesse an neuen konstruktiven Prinzipien. Modigliani blieb davon unberührt — ein Traditionalist, der bis zum Schluß die Unantastbarkeit der Gestalt verteidigte. Zwar diskutierte er bereitwillig mit den Kubisten, und zog dabei angeblich immer wieder eine Abbildung von Cézannes Knabe mit der roten Weste aus der Tasche, die er ständig bei sich trug. Er überzeugte niemanden und ließ sich selbst nicht überzeugen. Er blieb Außenseiter, Alleingänger auf einem Gebiet, das ihm niemand streitig machte.
Doch so sehr Modigliani die „Ganzheit“ zu retten versuchte — es gelang nicht ganz. In seinem Spätwerk hat er die Individualität zugunsten der Schönheit, der Glätte, der Manier aufgegeben. Symptomatisch entwickelten sich dabei die Augen, die Blicke der Dargestellten. Schon immer hatte er die Tendenz, die Pupillen zu zerstören. Die geschwärzten oder verletzten Augenbälle seiner Frühzeit konnten allerdings der Individualität der Dargestellten noch nichts anhaben, wiewohl sie sie dem Betrachter entrückten. Modiglianis Porträtierte verweigern sich trotz ihrer ernormen Präsenz. Sie bleiben ein Geheimnis.
Nicht so die späteren Bilder. Von formvollendeter Schönheit, farblicher Brillanz und perfekter formaler Konzeption wirken die bläßlich- blauen leeren Augen in den entindividualisierten Gesichtern dumpf, ausdruckslos. Versucht der Betrachter, sich auf sie zu konzentrieren, bemerkt er irritiert, daß er abschweift. Sie haben die Kraft zu fesseln verloren.
Kitsch und Kunst berühren sich dann häufig, wenn eine Manier sich verselbständigt. Modiglianis Mädchen mit Zöpfen aus seinem Spätwerk etwa, ein niedliches kleines Ding mit Kulleraugen und rotem Pullover, mag Patin gestanden haben für all die süßlichen Kinderbildchen, die entlang der Seine verhökert werden.
Eines seiner Meisterwerke ist sicher der Akt aus der Sammlung Mattioli — leider nicht in Düsseldorf zu sehen —, eine Liegende mit aprikosfarbenen, schwellenden Gliedern auf einem leuchtend grünen Kissen. Arme und Beine sind angeschnitten. Modigliani konzentrierte sich auf das Wesentliche und ging dabei so nah wie möglich heran. Die körperliche Präsenz der Dargestellten scheint dabei fast den Bildrahmen zu sprengen. Ihr Gesicht ist dem Betrachter zugewandt, ihre Augen jedoch bleiben schwarz verschattet. Auch hier nutzte Modigliani die Spannung zwischen frontaler Hinwendung und gleichzeitigem Sichentziehen. Modiglianis Nackte besitzen dasselbe Selbstbewußtsein, dieselbe Selbstverständlichkeit des Entblößtseins wie Manets Olympia, doch sind sie nicht so unterkühlt. Sie erinnern ein wenig an Egon Schieles erotische Zeichnungen, doch fehlt ihnen deren Raffinesse. Von „emanzipierten Frauen“ zu sprechen, wie Schmalenbach dies tut, wäre übertrieben. Dazu sind die Nackten in ihrer Individualität viel zu wenig ausformuliert. Die weniger gelungenen — und davon hängen in Düsseldorf bedauerlicherweise einige — sind sogar von erbärmlicher Plattheit, wenn sie den Betrachter mit schweren Lidern oder direkt anblicken. Da kündigen sich die Pin-ups der 40er Jahre an.
Werner Schmalenbach kommentiert die Ausstellung im Katalog mit einem einfühlsamen, manchmal zu unkritischen Text. Abbildungen des Katalogs haben allerdings mit den tatsächlich ausgestellten Arbeiten so wenig zu tun wie Träume mit der Wirklichkeit. Nur etwa Dreiviertel der abgebildeten Werke — und nicht immer die besten — sind tatsächlich ausgestellt. Auch der Werkkatalog im Anhang entspricht nicht der Realität, was beim Betrachter Verwirrung und Ärger über soviel Vorenthaltenes stiftet.
Dennoch — die Ausstellung in Düsseldorf ist ein Erlebnis. Nichts vom Hunger, von Elend und Krankheit, von Ausschweifungen und Exzessen taucht in Modiglianis Werken auf. Schmalenbach sieht darin einen Grund, die Vita des Künstlers vollständig vernachlässigen zu können. Zu unrecht behauptet er: „Die Vermengung von Leben und Kunst war mit seinem hohen ästhetischen Ideal nicht vereinbar.“ „Vermengt“ wurde da vielleicht nichts — aber ein tiefer Zusammenhang besteht doch. Modiglianis Kunst ist ein Gegenentwurf. Je tiefer die Krise, je verzweifelter die Lebenssituation, desto entrückter und manirierter wirken seine Bildnisse. Am Ende ist es so, als hätte er nicht mehr die Kraft gehabt, seine Modelle als Individuen zu begreifen: Die späten Porträts sind keine Bildnisse mehr. Auf der Flucht vor der Realität hatte er sich vollends im Reich der Vollkommenheit verstiegen und malte leblose Gestalten von anrührender Schönheit.
Amedeo Modigliani , Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, bis 1. April 1991, danach im Kunsthaus Zürich; Katalog 226 Seiten, 49 DM, gebunden im Buchhandel 98 DM.
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