: Die Utopie vom sanften Verkehr
■ Westdeutsche Verkehrsberater empfehlen autoarme ostdeutsche Verkehrszukunft. Ostdeutsche Städte bieten die besten Voraussetzungen, um zum Fußgänger- und Radlerparadies zu werden...
Dem SPD-Landrat des ostdeutschen Braunkohle-Landkreises Borna blieb der Mund offen stehen: „Das muß ich erst einmal schlucken.“ Soeben hatten ihm westdeutsche Verkehrsexperten der renommierten Beratungsfirma Krupp-Systemtechnik empfohlen, die einzige vierspurig ausgebaute Straße seines Kreises, ein Teilstück der Bundesstraße B95 ins 25 Kilometer nahe Leipzig auf zwei Spuren zurückzubauen. Sonst, so die Kruppianer, werde man Lkw- Durchgangsverkehr geradezu magisch anziehen und die Verkehrsprobleme im Kreis noch verschärfen. Small sei nicht nur beautiful, sondern auch leistungsfähig.
Der ostdeutschen Projektbeirat des Modellprojektes „Regionalentwicklung Südraum Leipzig“ konnte es nicht fassen: War das die Verkehrszukunft, für die die Westexperten Konzepte vorlegen sollten? Kann so der wirtschaftliche Aufschwung losgehen? Man selber hatte doch gerade die Autobahnideen aus der alten sozialistischen Zeit wieder ausgegraben, die nun endlich mit Mittelstreifen und Ausfahrt für jedes Dorf den „Weststandard“ herbeibetonieren sollten!
Nach Berechnungen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sind bis zu 700 Milliarden DM erforderlich, um den Verkehrssektor in den ostdeutschen Ländern auf heutiges westdeutsches Niveau zu heben. Eine absolut unbezahlbare Summe. Das Hamburger Verkehrsplanerbüro SCI, welches im Januar im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums zusammen mit der Consulting-Firma Krupp Systemtechnik ein Verkehrskonzept für den Südraum Leipzig vorlegte, argumentierte gegenüber Straßenausbauplänen geradezu entwaffnend: Selbst wenn jene fünf bis zehn Milliarden DM investiert seien, mit denen sich theoretisch das Verkehrssystem in den beiden Landkreisen Altenburg und Borna im Süden Leipzig auf Westniveau katapultieren ließe — selbst dann stände man erst am Anfang. Denn im hochgelobten Westen mit seinem Verkehrssystem de luxe kämpfe man augenblicklich gegen den Verkehrsinfarkt, gegen das Chaos. Selbst Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat den Zusammenhang durchschaut: „Die Entwicklung der Bundesrepublik hat gezeigt, daß ein verstärkter Ausbau des Straßennetzes zu einer Zunahme des Individualverkehrs führt und der Güterverkehr sich immer mehr auf die Straße verlagert. Das kann jedoch nicht das Konzept für die Zukunft sein. Wir müssen bereit sein, aus den Fehlern der Gegenwart zu lernen, und daher kann die Forderung nur lauten, künftig in stärkerem Maße umwelt- und energiepolitische Erfordernisse zu berücksichtigen.“
So verblüffend es auf den ersten Blick aussieht: Die zerschlissene Ex- DDR bietet für eine umweltbewußte Politik gerade im Verkehrssektor hervorragende Ausgangsbedingungen. Hartmut Topp, Verkehrsplaner an der Universität Kaiserslautern, hat das kürzlich so formuliert: „Straßen- und Platzräume in den Klein- und Mittelstädten der ehemaligen DDR sind in ihrer historischen Überlieferung räumlich und städtebaulich intakt. Dieses kulturelle Erbe bestimmt den Handlungsspielraum. Die DDR-Städte haben die große Chance, den nur bedingt korrigierbaren Umweg über eine fachsektorale Optimierung der Verkehrsanlagen und der Dominanz des Autos im Stadtbild ebenso zu überspringen, wie die Kinderkrankheiten der Verkehrsberuhigung mit ihren schikanösen Lenkungsmaßnahmen und kleinkarierten Verhübschungen.“
Kurz — die verkehrspolitische Fehlentwicklung im Westen seit Mitte der fünfziger Jahre kann im Osten einfach übersprungen werden. Während im Westen Straßen zurückgebaut, Straßenbahnen wieder eingeführt, die Vorzüge von Fußwegen und Fahrrad neu entdeckt werden, hat das Fünfziger-Jahre-Niveau Ostdeutschlands teilweise geradezu traumhafte und vorbildliche Zustände konserviert, gemessen am westeuropäischen Verkehrsstandard. In den kaum zersiedelten, von Straßendurchbrüchen verschonten Klein- und Mittelstädten wird zu Fuß gegangen wie kaum anderswo. Die Wege sind kürzer, das Angebot öffentlicher Verkehrsmittel quantitativ erstaunlich. So wurden noch 1989 in der mittelalterlichen Kreisstadt Altenburg mit ihren 50.000 EinwohnerInnen 42 Prozent der Wege zu Fuß, 10 Prozent mit dem Rad, 19 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und nur 29 Prozent mit dem Auto zurückgelegt. In vergleichbaren westdeutschen Städten kommen FußgängerInnen auf 20 und 30, RadlerInnen auf 5 bis 15, der öffentliche Verkehr auf 5 bis 15, das Auto schließlich auf 50 bis 60 Prozent aller Wege. Die „Mobilität“ der WestlerInnen ist dabei nicht höher. Im Gegenteil, sie legen genauso viele, aber deutlich längere Wege zurück, brauchen dafür aber mehr Zeit und ungleich mehr Geld.
Die Hamburger Verkehrsplaner empfahlen deshalb der Stadt Altenburg: Innenstadtsperrung für Autos, Tempo 30 flächendeckend und Parkverbote. Die Stadtentwicklung sollte auf cash and carry am Stadtrand und Zersiedelung verzichten. Investitionen sollten zuerst in ein Radwegenetz und den öffentlichen Nahverkehr gehen. Der traditionsreiche Bahnhof könnte zum städtebaulichen Mittelpunkt aufgewertet und mit einer City-Bahn im Halbstundentakt ans 45 Kilometer nahe Leipzig angeschlossen werden. Bei einer konsequenten, vernetzten Verkehrspolitik, die von der Fahradselbsthilfewerkstatt über das ÖPNV-Image bis zum Städtebau und zur Industrieansiedlung auf Reduzierung des Verkehrsbedarfs und sanfte Verkehrsmittel setzt, ließe sich der Pkw-Anteil dauerhaft sogar noch unter die Werte aus der realsozialistischen Ära drücken, behauptet das Gutachten der westdeutschen Planer.
Zwischenzeitlich sind die vergleichsweise idyllischen Verkehrsverhältnisse der realsozialistischen Ära jedoch bereits Vergangenheit. Im Jahr 1990 brach eine beispiellose Blechlawine über die Kreise Altenburg und Borna herein. Der Motorisierungsgrad stieg innerhalb weniger Monate von 230 auf 300 Autos je 1.000 EinwohnerInnen, die Zahl der gefahrenen Kilometer erhöhte sich um rund 70 Prozent, die der Verkehrsunfälle um fast 100 Prozent. Im Kreis Borna verfünffachte sich die Zahl der Verkehrstoten gegenüber dem Vorjahr. Private Verschuldung, 1989 noch unbekannt, wurde zum Massenphänomen — die Pkw-Industrie kassierte mächtig ab. Hatten die Lärm- und Abgaswerte des Autoverkehrs in den Kreisstädten schon vor der Wende die biederen Grenzwerte der DDR überstiegen, so wurde das Leben für die AnliegerInnen der engen, oft noch gepflasterten Stadtdurchfahrten zur Hölle.
Gleichzeitig steuert der öffentliche Verkehr bergab. Insbesondere der Werksverkehr zu der Braunkohleindustrie brach fast völlig zusammen. Die Kraftverkehrs AG in Altenburg, die mit hunderten von Bussen und knapp 2.000 MitarbeiterInnen den öffentlichen Straßenverkehr im Südraum Leipzig bewältigt hatte, war auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet. Das Management, gerade gewohnt, auf Anforderung eines Braunkohlechefs ein paar überalterte Ikarus-Busse auf Tour zu schicken, abonnierte zwar die Zeitschrift 'Capital‘, hat aber zwangsläufig mit modernem Nahverkehrsmanagement keine Erfahrung.
Die Spirale bundesdeutscher Verkehrspolitik der letzten dreißig Jahre — mehr Autos, weniger öffentlicher Verkehr — setzte sich, wie anderswo in der Ex-DDR, auch hier in Bewegung. Sollte man diesen Trend, durch Staus, Tote, zugeparkte Innenstädte und protestierende BürgerInnen schon zu Beginn seiner Entwicklung erfahrbar, wirklich mit Fahrradwegen, Fußgängerparadiesen, Temporeduzierungen und Parkverboten bekämpfen? Die Kommunal- und Regionalpolitiker in Altenburg und Borna waren anfangs skeptisch, erwärmten sich aber im Verlauf der mehrmonatigen Zusammenarbeit mit den Westexperten für den neuen und anderen Weg. Ausschlaggebend waren vor allem zwei Argumente: Der kaum bezahlbare Straßenbau führe verkehrspolitisch in die Sackgasse, werde Staus und Chaos nur vermehren, statt zu beseitigen, wie das Beispiel Westdeutschland zeige. Und eine durch Umweltzerstörung geschundene Region dürfe nicht das, was sie durch Industriesanierung an Umweltqualität gewinne, auf dem Verkehrssektor wieder verspielen.
Die Planer von Krupp und SCI fürchten aber, daß stattdessen im Südraum Leipzig der Marsch in den automobilen Infarkt weiter gehen wird. Notwendig, so meinen sie, sei eine durchsetzungsfähige und kompetente regionale Instanz, bei der Verkehrspolitik absolute Priorität hat. Das ist allerdings kaum in Sicht. Statt dessen werden die Planer und Macher vor Ort über kurz oder lang wohl doch das machen, was sie können: Straßen bauen. Die Trassen sind frei, die BürgerInnen an Widerstand noch nicht gewohnt. Das verkehrspolitische Motto, so zeichnet sich ab, wird lauten: Bevor wir gar nichts tun, bauen wir wenigstens Straßen.
Dafür werden schon die Wirtschaftsdezernenten sorgen, die jedem potentiellen Investor jede gewünschte Straße bauen. Eine eigenständige Verkehrspolitik, die in der Stadt- und Regionalpolitik Vorrang vor kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen erhält, ist (noch?) nicht in Sicht. Geradezu absurde Züge nimmt die Verkehrsplanung der Wirtschaftslobby in Sachen Luftraum an: Fast jeder der vielen Militärflugplätze in der Ex-DDR ist heute als Regionalflugplatz für Geschäftsreisende im Gespräch, ein Verkehrskonzept, das nicht einmal Franz Josef Strauß für Bayern jemals ernsthaft ins Auge gefaßt hätte.
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