piwik no script img

„Diskret — und unter amüsierter Herablassung“

Das zentralisierte Frankreich hat Schwierigkeiten, sich ein juristisch zentralisiertes Europa vorzustellen  ■ Aus Paris Alain Guillemoles

Im November letzten Jahres, Frankreich präsidierte gerade dem Ministerrat, traf sich in Cannes die Crème der französischen Rechtsgelehrten zu einem Kolloquium, um über die europaweite Harmonisierung des Rechts nachzudenken. Delegierte der großen Corps, Berater der maßgeblichen Unternehmen, Professoren, Rechtsanwälte debattierten, wie sie die Normen ihres Landes im Wirtschafts-, Sozial-, Wettbewerbsrecht mit den europäischen Normen in Einklang bringen könnten.

Frankreich hat, dank seiner jakobinischen Vergangenheit, seine nationale Identität auf den Zentralismus eines starken Staates gebaut. Es ist deswegen sehr schwierig, sich an eine andere Legitimität jenseits des Nationalstaats zu gewöhnen: „In Föderalstaaten wie der Bundesrepublik“, meint Bastien Fran¿ois, Politologe an der Sorbonne, „ist die europäische Rechtsnorm, was die Souveränität betrifft, lediglich eine weitere Stufe. In einem Zentralstaat wie Frankreich wirft das dagegen ernste Probleme auf. Wir wissen einfach nicht, wie wir die Modalitäten eines Transfers von Souveränität bestimmen sollen. Zur Zeit gibt es noch keine rechtstechnische Lösung.“ Als sich Ende November die parlamentarische Versammlung in Rom traf, um über die Kompetenzerweiterung des EG-Parlaments zu beratschlagen, weigerten sich 39 Deputierte, für eine entsprechende Schlußerklärung zu stimmen — darunter waren 18 Franzosen. Gaullisten und Sozialisten waren sich darin einig, daß Europa ein „Europa der Nationalstaaten“ sein müsse.

Gegenüber der Nationalversammlung legen die Franzosen quasi-religiöse Gefühle an den Tag. „In bundesstaatlichen Verfassungen regeln Richter ständig die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Bundesländern. Man vertraut ihnen die Konfliktregelung an. In Frankreich gibt es nur eine oberste Norm, die überall und von allen angewendet werden soll. Vertrauen tut man lediglich dem Legislateur, also dem Parlament.“ Wobei das Parlament durch die de Gaullesche Verfassung von 1958 im Zweifelsfall hinter der Exekutive zurückzustehen hat: Dank des berühmten Artikels49 Abs.3 kann der Staatspräsident jeden Gesetzentwurf seiner Regierung auch gegen das Parlament durchsetzen.

Natürlich ist dieser jakobinisch- napoleonische Idealtypus zentralstaatlicher Souveränität in den letzten Jahren durch Reformen getrübt worden. Die Dezentralisierung 1982 und die europäische Einigung haben die absolute Macht der Zentrale real eingeschränkt. Zur Zeit ist jeder zweite der Nationalversammlung vorgeschlagene Gesetzentwurf indirekt von der Gemeinschaft initiiert. De facto also eine kleine Revolution im französischen Rechtsdenken — über die jedoch nicht öffentlich geredet wird. Es steht außer Frage, eine öffentliche Debatte über eine Teilentmachtung der Nationalversammlung zugunsten des Europaparlaments zu führen. Marceau Long, der Präsident des Staatsrats, meinte bei dem Kolloquium in Cannes, daß sich die europäische Rechtsangleichung in Frankreich „diskret und unter allgemeiner Indifferenz, um nicht zu sagen: amüsierter Herablassung“ vollziehe.

Statt die eigenen Normen den europäischen anzupassen, beschränken sich die Akteure — wie anderswo auch — darauf, ihren Einfluß in Brüssel geltend zu machen, um eine etwaige verbindliche EG-Norm der französischen so weit wie möglich anzugleichen. Wobei sie ihr Gewicht freilich vor allem in Fragen des Wirtschaftsrechts geltend machen.

Anders verhält sich die Sache dagegen hinsichtlich der Probleme von Minderheiten — über die lassen die Franzosen leichter mit sich reden. Ein Musterbeispiel ist etwa die Frage der Immigranten, deren juristische Behandlung derzeit ganz im Vordergrund europäischer „Harmonisierung“ steht; und da haben viele, weil ohne Lobby, allerhand zu verlieren. So erlangen zum Beispiel von den 40.000 jährlich in der Bundesrepublik geborenen Kindern türkischer Eltern gerade 1.000 die deutsche Staatsbürgerschaft. In Frankreich, wo die Jakobiner eben auch ein anderes Verständnis vom Staatsbürger (Citoyen) hinterlassen haben, werden von den jährlich 30.000 Ausländerkindern lediglich 2.000 Kinder nicht Franzosen. Die „Harmonisierung“ wird diese Differenz wohl sehr bald auszugleichen oder jedenfalls stark zu vermindern wissen — und sicher nicht zugunsten der derzeitigen französischen Regelung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen