Sowjetdeutsche bleiben vor der Tür

Der Kongreß der Sowjetdeutschen wurde von einer Kommission des Obersten Sowjet abgesagt/ Dennoch tagte die Versammlung/ Entweder die alte Wolgarepublik oder der Exodus in die BRD?  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Im Moskauer Iljitsch-Lenin-Kulturpalast sitzt die Ärztin Maria Franzewna aus Nowosibirsk und registriert die Deputierten. 505 von 972 gewählten Delegierten aus allen Teilen des Landes zum ersten Kongress der Sowjetdeutschen konnte sie am Dienstag als anwesend melden. Warum so wenige?

Erst kurz vor dem Einsteigen in die Maschine auf dem heimatlichen Flughafen erfuhr Maria, daß ihre Reise kein offizielles Ziel mehr hatte. Das große Ereignis war vom Organisationskomitee der Kommission für zwischennationale Beziehungen des Obersten Sowjet der UdSSR am Vorabend vertagt worden. Praktisch hatte sich das Gremium also als „Desorganisationskomitee“ erwiesen, denn der Termin stand schon seit zwei Monaten fest, die Zimmer waren im Hotel „Rossija“ gebucht, und auch die Halle im Moskauer Gewerkschaftspalast. Die plötzliche Umentscheidung wurde schamhaft angekündigt: am 8. März, dem Weltfrauentag, an dem als offiziellem Feiertag in der Sowjetunion allenthalben ausgeschlafen wird, kam frühmorgens eine Meldung im Rundfunk, am 9. brachte allein die „Iswestija“, eine Verlautbarung. Manche Delegierte erfuhren über die Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets, daß ihre „Dienstreise“ leider nicht anerkannt werden könne. Viele fuhren, wie Maria, trotzdem. Jetzt müssen sie sich auf Unannehmlichkeiten am Arbeitsplatz gefaßt machen. Da der Kongress nicht mehr „offiziell“ ist, sondern spontan und — wahrhaftig — „außerordentlich“, gilt ihr Aufenthalt in Moskau als unentschuldigtes Fernbleiben. Die Kosten müssen sie selbst tragen. Vier Stunden saßen sie miteinander im Hotel Rossija, bis sie erfuhren, daß dort kein Platz mehr für sie sei, und auch das neue Versammlungslokal mußte angemietet werden.

Als Begründung für seine einschneidende Maßnahme berief sich das Parlamentskomitee, dessen Zusammensetzung nie offiziell bekanntgegeben wurde, „auf die Ebene der Führung des Landes“. Dort schätze man, daß eine Reihe von Gesetzesakten für die praktische Arbeit noch nicht weit genug gediehen seien. Außerdem überschneide sich der Kongreß mit dem am Wochenende geplanten Referendum. Die Leitung der „Gesellschaft Wiedergeburt“, die bisher die Interessen der Sowjetdeutschen vertrat, hält diese Argumente für nicht überzeugend. In Wahrheit liege ein tiefer Interessengegensatz vor: Die Mehrheit der Deputierten der Sowjetdeutschen bestehe auf der Wiederherstellung der ungesetzlich liquidierten autonomen Republik der Deutschen an der Wolga, während ihnen das Komitee empfohlen habe, sich auf eine „nationale Selbstverwaltung“ kultureller Art durch das Präsidium des Kongresses zu beschränken. „Wir brauchen keine Regierung mit den Rechten eines Jäger- und Anglervereins“, meinte hingegen die Mehrheit der Anwesenden und wählte ein neues „Organisationskommitee“, dem anstelle des alten Vorsitzenden Hugo Wormsbecher nun Heinrich Grout von der „Wiedergeburt“ vorsitzt. „Das Referendum! Das Schicksal der UNION! Wie merkwürdig, daß sich gerade hinter diesen Worten die Kräfte verbergen, die versuchen, unseren Kongress zu sprengen... Will etwa die Unionsregierung von uns auf diese Weise eine positive Antwort auf die Frage nach der Erhaltung der UdSSR erzwingen?“ So der neue Vorstand. Während die Nachrichtenagentur 'Tass‘ schon das Quorum dieses Kongresses bezweifelt, macht sich im Publikum der Spaltpilz breit. Am meisten bewegt die Gemüter die Frage, ob man, wie Heinrich Groot vorschlägt, bei Nichterfüllung der Forderung nach der Wolgarepublik mit dem Kampf um freie Ausreise in die Bundesrepublik drohen soll. Die Ärztin Maria könnte dorthin gar nicht ausreisen, denn ihre Vorfahren waren deutschsprachige Schweizer. Und ihr Freund Alexander Roth, ebenfalls aus der Gegend von Nowosibirsk, fühlt sich als Mechaniker in der Sowjetunion am rechten Platz. Seine Kinder will er aber deutsch erziehen. „Das ist auch eine Frage der Ökologie“, scherzt er. „Als Minderheit sind wir Sowjetdeutschen genauso schützenswert wie die Schneehasen“.