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Kein Jenseits

Primo Levis letztes Buch  ■ Von Elisabeth Pfister

Jean Améry hat ihn einmal etwas spöttisch „den Verzeihenden“ genannt. Seine Bekanntschaft mit Primo Levi, dem italienischen Juden, Chemiker und späteren Schriftsteller, rührte von Auschwitz her — KZ-Gefährten. Beide sind tot. Jean Améry hat 1978 „Hand an sich gelegt“, Primo Levi stürzte sich 1987 in den Treppenschacht seines Wohnhauses. Beide „Überlebende“ der Lager gingen bis dahin unterschiedliche Wege der Erinnerung, begriffen sich gar als Antagonisten: der politische Streiter Jean Améry und der akribische Chronist Primo Levi. In seinem letzten Buch Die Untergegangenen und die Geretteten, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, widmet Primo Levi dieser unausgelebten Kontroverse (beide sind sich nie mehr begegnet) ein ganzes Kapitel und zeigt auch den Schlüssel ihrer Divergenz: Jean Améry hatte in einem Aufsatz beschrieben, wie er in Auschwitz einmal zurückgeschlagen hatte, als er von einem kriminellen Mithäftling angegriffen worden war, und das war eine Quintessenz seiner KZ-Erfahrung geblieben: zurückschlagen selbst unter dem Risiko der Niederlage, um die verletzte Würde zu verteidigen. Nein, das konnte Primo Levi bis zuletzt nicht: zurückschlagen. Nicht im Lager und nicht danach. Ein zarter kleiner Mann, der, wie so viele, Schuld empfand, daß er überlebt hatte, ein Intellektueller, mit einer unbedingten Aufrichtigkeit geschlagen. Kaum war er nach der „Befreiung“ zurück in Italien, begann er zu schreiben: Dokumentarisches, Autobiographisches über das KZ, Essays über den Mechanismus der Unterdrückung. In seinem Buch Das periodische System hat er geschrieben: „Ich glaubte, ich könnte mich durch Erzählen reinigen... beim Schreiben fand ich für kurze Zeit Frieden“ — das KZ und der Beginn des Erzählens.

Primo Levi entstammte einer assimilierten jüdischen Familie in Turin, wurde Chemiker. 1943 schloß er sich einer Widerstandsgruppe gegen die Deutschen an, wurde gefaßt und 1944 nach Auschwitz deportiert. In den Essays des vorliegenden Bandes vermißt er den Binnenraum des Lagers und die Gestalten, die dieses „univers concentrationnaire“ bevölkern, analysiert die Sozio-Pathologie der Häftlinge ebenso wie das ausgetüftelte System ihrer psychischen und moralischen Zerstörung. Eines der quälendsten Kapitel des Buchs hat Levi Die Grauzone genannt. Damit bezeichnet er jenen Raum zwischen den Tätern und den Opfern, der eben nicht „leer“ ist. Es ist der Bereich der verweigerten Solidarität zwischen den Opfern, die Zone, in der sich Anpassung und (erzwungene) Kollaboration abspielten. Die „Grauzone“ — Hoffnung und Überlebenshölle in einem. Das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus, so Levi, war die Aufstellung der „Sonderkommandos“ in den KZs. Ausgesuchte Häftlingstruppen mußten ihre Mitgefangenen „geordnet in die Gaskammern treiben, die Leichen aus den Kammern entfernen, Goldzähne aus Kieferknochen brechen, Verbrennungsöfen warten, Asche herausholen. Es war aber nicht nur die Ökonomie der Arbeitskraftbeschaffung, die hinter diesem infernalischen Sadismus der Nazis steckte, wie Levi schreibt: Mit Hilfe dieser Einrichtung wollten die Lager-Nazis „das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst abwälzen, so daß diesen — zur eigenen Erleichterung — nicht einmal mehr das Bewußtsein ihrer Unschuld bleiben würde“. Doch nicht genug: Eine Elf der Sonderkommandos mußte regelmäßig als Gegenmannschaft für SS-Teams zum Fußball antreten — Tod und Spiele in Auschwitz. Nicht zuletzt für sie hat Primo Levi für den Rest seines Lebens geschrieben, er, der sich selbst als Lagerprivilegierten bezeichnet, weil er zeitweise als Chemiker im Nebenlager Monowitz-Buna eingesetzt wurde: „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer das Haupt der Medusa erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“ Und er meint damit auch die wenigen Überlebenden der Sonderkommandos, die nur noch in sprachloser Erstarrung weiterleben konnten. Sie haben das KZ in sich fortgetragen, wie Primo Levi letztendlich auch. Er wollte schreibend diesem inneren Inferno entkommen, in einer Therapie sah er gar keinen Ausweg. Zu tief war sein Mißtrauen gegenüber den Psychoanalytikern, „die sich mit professioneller Gier auf unsere wirre Ratlosigkeit gestürzt haben“, zu apokalyptisch die Lagererfahrung, als daß sie sich mit dem aus der normalen Alltagserfahrung gewonnenen ärztlichen Wissen greifen ließe. Und hier stimmt er Jean Améry zu, der schrieb: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht mehr austilgen.“ Primo Levi hatte nur zwei Waffen: das Wort und — die Chemie. Sie hatte ihn das Fragen gelehrt: In welcher Situation reagiert welche Substanz wie? Wenn ich so agiere, wie reagiert die Substanz? Warum verhält sich ein Partner so, und warum hat er jetzt sein Verhalten geändert? Kann ich voraussehen, was sich innerhalb der nächsten Minuten ereignet?

Für Primo Levi war das KZ (und man zuckt zusammen, wenn man das liest) „eine Universität“: „Sie hat uns gelehrt, uns umzuschauen und die Menschen zu beurteilen“ — Auschwitz als höhere Lehranstalt. Das Lernziel: „Die Gattung Mensch kennenlernen.“ Sein Leben lang hat ihn dieses verzweifelte Begreifenwollen umgetrieben, und zwar um jeden Preis: Nirgends erlaubt er sich (und dem Leser), den Blick abzuwenden, auch nicht von der quälendsten Erkenntnis der menschlichen „Zwiespältigkeit“ (eines seiner bevorzugten Worte). Und mehr noch: Er versagt es sich, die NS-Täter, die Folterer (bis auf wenige Ausnahmen) zu dämonisieren. Mit unbestechlicher Genauigkeit untersucht er auch ihre Situation und kommt zu dem Schluß, daß auch sie, in eine andere Umgebung, in eine andere Zeit hineingeboren, sich verhalten haben würden wie jeder andere auch. So banal ist das Böse, schon Hannah Arendt hat das in ihrem Buch über Adolf Eichmann beschrieben. Doch hier schreibt es ein KZ-Überlebender, ein „Betroffener“, der sein Leben damit zugebracht hat, das Lagertrauma zu überwinden. Nie hat ihm eine finale politökonomische Ableitung dabei geholfen, sein Schicksal als zwar entsetzlich, aber dennoch als Teil historisch bedeutsamer Abläufe zu interpretieren. Wenn derTäter aus mehr oder weniger banalen Alltagsgründen handelt (und die meisten „Mitläufer“ taten das), dann verliert auch das gequälte, gefolterte und getötete Opfer an heroischer Qualität, das heißt an „Sinn“. Dann aber ist auch der Mensch schlechthin (der Täter wie das Opfer) ein banales Instrument der Verhältnisse, dem alles, das Beste und das Schlechteste, zuzutrauen ist — manchmal sogar gleichzeitig.

Primo Levi hatte keinen Schutz vor dieser Erkenntnis, keinen politischen Entwurf, keinen religiösen. Das interessanteste Kapitel des Buchs, Der Intellektuelle in Auschwitz, schildert dieses Dilemma. In diesem Text setzt er sich sehr dezidiert und durchaus auch mit leiser Verachtung mit Jean Amérys Aufsatz An den Grenzen des Geistes auseinander, in dem Améry die Situation des Intellektuellen im KZ analysiert. Nicht zu Unrecht moniert der Naturwissenschaftler Levi die Arroganz von Amérys Definition, der nur die geisteswissenschaftlichen Denker mit „hohem ästhetischem Bewußtsein“ zur Gruppe der Intellektuellen in Auschwitz zählt. Mit feinem, bitterem Spott setzt sich Levi mit jenen inhaftierten Denkern auseinander (und er meint damit auch Améry), die mit dem Denken des undenkbaren Grauens nicht mehr zurande kamen, körperliche Arbeit als solche als Schande empfanden und tatsächlich oft körperlich unfähig waren, das Überleben praktisch anzupacken. Nicht selten verzweifelten gerade sie, die in Logik und Moral die größte intellektuelle Kraft sahen, an ihrem Kampf gegen eine unlogische und unmoralische Wirklichkeit. „Diese Kapitulation“, so Primo Levi, „konnte den gebildeten Menschen zur intellektuellen Abdankung führen.“ Nein, so einer war er nicht, er hatte nicht das Selbstverständnis, zur geistigen Elite zu gehören, was ihm das Lagerleben einerseits erleichterte — eine Schaufel, mit der er graben mußte, war eine Schaufel und keine erniedrigende Schmach. Doch andererseits hatte er auch kein Deutungssystem, das ihm dieses Todesuniversum entschlüsseln half — keine politische Ideologie und erst recht keine religiöse. Hinter Levis KZ war nichts mehr verborgen — keine Logik, kein Jenseits, es war nur eine sinnlose Apokalypse. Und doch hatte der leidenschaftliche Analytiker und skeptische Moralist ein Credo: seinen Glauben an die Kraft des Verstandes und an die Macht der Wörter. Seit seiner Befreiung hat er in all seinen Büchern versucht, die Verdrängung auch der schmerzendsten Erinnerungen zu bekämpfen — bis zu jenem 11. April 1987, als er sich umbrachte.

Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Hanser Verlag, 212 Seiten, 34 DM.

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