: Sein oder Nichtsein für die neue alte Union
■ Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion konnten am Sonntag die Menschen des Riesenreiches über die Zukunft ihres Staates abstimmen. Rund 200 Millionen Stimmberechtigte waren aufgerufen
Sein oder Nichtsein für die neue alte Union Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion konnten am Sonntag die Menschen des Riesenreiches über die Zukunft ihres Staates abstimmen. Rund 200 Millionen Stimmberechtigte waren aufgerufen, über den Erhalt bzw. die Erneuerung der Union zu entscheiden. Die drei baltischen Unionsrepubliken sowie Moldawien, Georgien und Armenien boykottierten die Abstimmung.
Mindestens 60 Prozent Jastimmen erwarten sowjetische Soziologen auf die Frage, ob die UdSSR als erneuerte Union souveräner sozialistischer Sowjetrepubliken erhalten bleiben soll. Daß etwa 30 Prozent der Wähler nicht wissen, wie diese Frage eigentlich zu verstehen sei, beeinflußt ihre Entscheidung kaum — ein Hinweis darauf, daß die Werbung Präsident Gorbatschows und der KPdSU, einen positiven Ausgangs des Referendums mit Frieden und Stabilität im Lande gleichzustellen, auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Formulierung, nach der gestern die Sowjetbürger ihr Kreuzchen malen sollten, lautete: „Halten Sie die Erhaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken für notwendig, in der die Rechte und Freiheiten der Menschen jeder beliebigen Nation in vollem Maße garantiert sein werden?“ 200 Millionen konnten darauf mit Ja oder Nein antworten. „Unser Ja ist die Garantie dafür, daß niemals wieder die Flamme des Krieges unser Land versengt“, beschwor der Präsident in seinem Fernsehauftritt am Freitag abend die Völker der Sowjetunion.
Daß die UdSSR dringend des Umbaus bedarf, ist heute offenbar allen klar. Doch da das Zentrum bisher nicht erklären kann, wodurch namentlich sich die „erneuerte Föderation“ von der alten unterscheiden soll, suchen die Republiken weiterhin ihren eigenen Ausweg. Extrem macht sich dies auch bei der Durchführung des Referendums bemerkbar; abgesehen davon, daß sechs bisherige Sowjetrepubliken sich überhaupt nicht daran beteiligen, wird es fast überall durch Zusatzfragen ergänzt, oder korrigiert, von einfachen stilistischen Änderungen bis hin zur — in der Westukraine ermöglichten — Forderung zum völligen Austritt aus der Union. Dies gilt auch für die Russische Föderation (RSFSR), wo die Mehrheit der Wähler parallel zu einem Ja-Entscheid im UdSSR-Referendum auch die Frage nach Einführung des Postens eines direkt vom Volk gewählten Präsidenten positiv beantworten wird.
Jelzin: Politikansätze sind entscheidend
In seinem Wahllokal im Moskauer Zentrum beteuerte Boris Jelzin am Sonntag morgen, daß hinter dieser Frage nicht Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm persönlich und Präsident Gorbatschow stünden, sondern zwei verschiedene politische Ansätze. Es bedarf jedoch kaum der Erklärung, daß die Persönlichkeit Jelzins für die Befürwortung einer Präsidialverfassung ausschlaggebend ist. Käme es heute in Rußland zu Präsidentschaftswahlen, hätte er wohl kaum ernsthafte Konkurrenten zu befürchten. In den Kongreß der Volksdeputierten der RSFSR, auf dessen Tagung KPdSU-Abgeordnete einen Mißtrauensantrag gegen ihn stellen wollen, würde Jelzin als potentieller Präsident ohne Zweifel gestärkt einziehen. Auch die Verhandlungsposition der RSFSR-Regierung bei der Präzisierung des neuen Unionsvertrages würde sich in diesem Falle verbessern.
Der Vertragsentwurf der UdSSR- Regierung, der erst letzte Woche veröffentlicht wurde, enthält einige Bestimmungen, die der Regierungsmacht in Rußland gefährlich werden könnten. So ist in dem Dokument davon die Rede, daß in der ersten Kammer des neuen Obersten Sowjets die Repräsentanten aller Republiken gleichberechtigt vertreten sein sollen. Für die Nationalitätenkammer ist sogar eine gleichberechtigte Vertretung aller „national-territorialen“ Gebilde vorgesehen. Im ersteren Falle ist also nicht ausgeschlossen, daß die kleinen „Autonomen Republiken“ den großen Sowjetrepubliken, auf deren Territorium sie sich befinden, gleichgestellt werden. Für Rußland, auf dessen Territorium sich allein 18 solcher Autonomien befinden, bedeutete eine solche Regelung praktisch die Auflösung der staatlichen Oberhoheit. In bezug auf die Nationalitätenkammer ließe die vorliegende Formulierung sogar die Gleichstellung der kleinen „Autonomen Gebiete“ mit den „Autonomen Republiken“ und den großen „Sowjetrepubliken“ zu. Auf diesen Umstand wurden als erste die Aserbaidschaner und die Einwohner der formell zu Aserbaidschan gehörigen, mehrheitlich aber von Armeniern bewohnten Enklave Berg-Karabach aufmerksam. Nur mit Mühe konnte Aserbaidschans Präsident Mutalibow seinen Obersten Sowjet zu einer Pro-Teilnahme-Entscheidung angesichts des Referendums bewegen, indem er sich persönlich für eine Verhandlungslösung verbürgte, die Karabachs Unterordnung unter Aserbaidschanische Oberhoheit garantiert.
Während die mit den Karabacher Landsleuten solidarische Regierung in Armenien sich weigerte, das Referendum durchzuführen, witterten die Bewohner der Enklave Morgenluft: Etwa achtzig Prozent wollen die Möglichkeit zur Abstimmung nutzen, die ihnen die aserbaidschanische Regierung bietet. Die Hoffnung, sich durch eine aufgewertete Rolle in einer neuen Union aus der Lage des Zankapfels zwischen zwei Sowjetrepubliken zu befreien, hat gewirkt.
„Mit Gewalt läßt sich nichts erreichen“
Die gegenwärtige Führung der UdSSR hat deutlich gemacht, daß sie einen Ja-Entscheid beim Referendum als Bestätigung ihrer Politik betrachten will. Dies, so betonte Präsident Gorbatschow in seiner Rede, „erlaubt es, den zerstörerischen Prozessen in unserer Gesellschaft ein Ende zu setzen und zu normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen zurückzukehren“. Boris Jelzin, der fast zur gleichen Zeit eine Rede über den Alternativsender Radio Rossija verbreiten ließ, äußerte in diesem Zusammenhang die Befürchtung, das Zentrum könne sich zu einer Politik der „Eisernen Hand“ ermutigt fühlen. „Der objektive Prozeß der Formierung einer neuen Union geht von unten aus, von den Republiken selbst“, sagte Boris Jelzin. Überraschend einig ist er sich in dieser Hinsicht mit den bisher eher dem Zentrum treuen Präsidenten der mittelasiatischen Republiken. So versicherte kürzlich der usbekische Präsident Karimow, daß er, wie Jelzin, das Eigentum an Land und Bodenschätzen an die territoriale Oberhoheit gebunden wissen will. Nach Gorbatschows Entwurf haben die Sowjetrepubliken jedoch lediglich das Nutzungsrecht für einen Anteil am gesamtsowjetischen Reichtum. Hier eröffnet sich eine Reihe von Problemen, die das Referendum nicht beseitigen wird. „Mit Gewalt wird man niemanden mehr in die Union hineinjagen können“, folgerte Boris Jelzin in seiner Ansprache. Barbara Kerneck, Moskau
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