: Hauchdünnes Ja der Moskowiter
■ Bei dem Referendum am Sonntag stimmte die Mehrheit der WahlteilnehmerInnen für einen Erhalt der Sowjetunion/ Wahlboykott in den nach Unabhängigkeit strebenden Republiken größtenteis befolgt
Moskau/Berlin (afp/dpa/taz) — Die Mehrheit der sowjetischen BürgerInnen stimmte am Sonntag bei der Volksbefragung mit Ja und damit für den Erhalt der UdSSR. Ob Gorbatschow sich dies allerdings als Erfolg an den Hut stecken kann, ist angesichts der fast allerorten abgewandelten Fragestellung und der deutlichen Befürwortung für die Direktwahl des Präsidenten in Rußland fraglich.
Die Bürger Moskaus haben nur mit hauchdünner Mehrheit für den Erhalt der Sowjetunion gestimmt. Nach ersten offiziellen Zahlen, die gestern in Moskau veröffentlicht wurden, machten 50,01 Prozent der Wähler ihr Kreuzchen für den Bestand der UdSSR. In Leningrad hat Gorbatschow vergleichsweise mehr Erfolg zu verbuchen. 69,8 Prozent der WählerInnen stimmten für den Erhalt der Sowjetunion.
Die Frage nach der Direktwahl des russischen Präsidenten wurde in den beiden wichtigsten Städten Rußlands deutlich befürwortet. 77,8 Prozent in Moskau und 70,8 Prozent in Leningrad sprachen sich dafür aus. Allerdings ist für eine Änderung des Wahlgesetzes die Zustimmung der Mehrheit der Wahlberechtigten und nicht der tatsächlich Wählenden ausschlaggebend; bei nur 67 Prozent Wahlbeteiligung in Moskau und 73,9 Prozent in Leningrad könnte es knapp werden. Die künftige Direktwahl des Präsidenten hatte der gegenwärtige russische Parlamentspräsident und Radikalreformer Boris Jelzin vorgeschlagen, der damit einer möglichen Abwahl durch das Parlament der Russischen Föderation entgehen will.
Die BürgerInnen der ukrainischen Hauptstadt Kiew erteilten dem Fortbestand der Union hingegen eine deutliche Absage. Nur 44 Prozent stimmten für den Fortbestand der UdSSR. Ein Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ vermutete gestern, daß in der Republik insgesamt 70 bis 75 Prozent für den Verbleib des Landes in der Union stimmen würden — allerdings als souveräner Staat. In Kasachstan, wo die Fragestellung ebenfalls abgewandelt wurde, sprach sich eine satte Mehrheit für den Erhalt der Union aus. 94,1 Prozent stimmten mit Ja und nur 5 Prozent mit Nein. Auch im Fernen Osten sieht die Bilanz für Gorbatschow offensichtlich positiv aus.
In den sechs nach Unabhängigkeit strebenden Republiken Litauen, Estland, Lettland, Moldawien, Armenien und Georgien wurde der Abstimmungsboykott hingegen weitgehend befolgt. In Kisinjow, der mehrheitlich von RumänInnen bewohnten Hauptstadt Moldawiens, kam es zu Schlägereien, als die RumänInnen Angehörige anderer Nationalitäten an der Stimmabgabe hindern wollten.
Über Unregelmäßigkeiten bei der Volksabstimmung berichtete der 'Interfax‘-Ableger 'Baltfax‘. So habe ein Journalist ohne Probleme in verschiedenen Wahlbüros abgestimmt.
Der sowjetische Präsident hatte am Sonntag bei der eigenen Stimmabgabe geäußert: „Ich bin überzeugt, daß beim Referendum positive Ergebnisse erzielt werden. Ich glaube nicht, daß unser Volk ein Selbstmörder ist.“
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