Eine Lobby für die Vergessenen

■ Geschäftsstelle für Öpfer der NS-Militärjustiz beginnt im Mai mit der Arbeit

Deserteure aus der US-Army, Deserteure aus den Divisionen des Saddam Hussein: Der Krieg am Golf hat das Thema „Desertion“ wieder brandaktuell werden lassen. Um die deutschen Deserteure aus der Hitler-Armee ist es dagegen jahrzehntelang ganz still gewesen. Dabei gab es ihrer viele: Rund 25.000 Männer hatten während des II. Weltkrieges zwischen 1939 und 1945 versucht, die deutsche Angriffs-Armee zu verlassen. Rund 15.000 von ihnen mußten ihr Freiheitsbestreben, ihren Pazifismus, mit dem Leben bezahlen.

Ludwig Baumann, Deserteur

Den Grund für das Totschweigen und Vergessen der Opfer benennt immer wieder einer, der selbst Opfer des NS-Militärjustizapparates war. Der 69jährige Bremer Deserteur Ludwig Baumann: „Wenn wir Recht kriegen, fühlt sich die ganze männliche Kriegsgeneration ins Unrecht gesetzt.“ Die Opfer selbst hätten es jahrzehntelang nicht gewagt, ihr Schicksal öffentlich zu machen und sich als „Feiglinge“ brandmarken zu lassen.

Baumann ist Vorsitzender der im Oktober gegründeten „Bundesvereinigung Opfer der NS- Militärjustiz“. Wöchentlich bekommt er anonyme Briefe, in denen er beschuldigt wird: „Sie aber haben keine Ehre, sondern machen mit ihrer Feigheit noch Reklame.“

Im Mai 1991, sechsundvierzig Jahre nach Kriegsende, wird in Bremen die Geschäftsstelle der „Bundesvereinigung“ ihre Arbeit aufnehmen. Räume sind bereits zu einem günstigen Mietzins von der Bundesbahnverwaltung angemietet.

Drei MitarbeiterInnen sollen eingestellt werden: Da ist zum einen eine Historikerin, die die Geschichte dieser Kriegsjahre neu schreiben und die Lebensgeschichten der überlebenden Opfer der Nachwelt bewahren soll. Ludwig Baumann: „Von unseren 23 Gründungsmitgliedern waren 18 zum Tode verurteilt. Die NS- Militärrichter haben mehr Todesurteile gefällt als der Volksgerichtshof und alle Sondergerichte zusammen.“

Nicht nur Deserteure wurden Opfer der NS-Militärjustiz. Auch Soldaten oder Flag-Helferinnen, die wegen kritischer Äußerungen denunziert wurden, landeten vor den gefürchteten Nazi-Richtern. Die NS-Richter konnten nach 1945 ihre Karrieren ungebrochen weiterführen — und etwa, wie Hans Filbinger, Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden.

Die überlebenden Opfer der Richtersprüche waren hingegen durch ihre Erlebnisse in Todeszellen und Strafbataillonen so gezeichnet, daß sie, wie Ludwig Baumann sich ausdrückt, „den Anschluß an die Gesellschaft nicht mehr fanden oder nicht mehr finden wollten.

Die „neue Geschichtsschreibung“ der Historikerin soll dazu beitragen, daß die Opfer anerkannt und für ihr Leid entschädigt werden. Außer der Historikerin soll noch eine SozialarbeiterIn eingestellt werden. Sie soll Betroffene „sozial betreuen“ und ihnen helfen, ihre Anträge auf Entschädigung auszufüllen. Eine engagierte Fachkraft wird noch gesucht. (Anfragen bitte an Ludwig Baumann, Aumunder Flur 3, 2820 Bremen).

Im Mai in der neuen Geschäftsstelle anfangen soll zudem eine Verwaltungsfachfrau. Ludwig Baumann: „Im Moment liegt die ganze Verwaltung noch bei mir. Über hundert Briefe stapeln sich. Ich kann das nicht alles schaffen.“ Er schätzt die Zahl der Betroffenen auf hunderttausend und mehr. Es gehe auch um die Überlebenden der Militärpsychiatrie: Um ehemalige Soldaten, die, vom Kriegführen seelisch geschädigt, schockbehandelt worden waren, um sie „fronttauglich“ zu machen und die dann später in Konzentrationslager eingewiesen worden waren.

Nicht vergessen wissen will Baumann auch die Angehörigen der Opfer, die Witwen, die ebenfalls nie einen Pfennig Entschädigung gesehen und nie als „Krieger-Witwen“ gegolten hätten. Einen entsprechenden Rechtsanspruch haben diese Frauen bislang noch nicht.

B.D.