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Durch Gewaltpornographie animiert

■ Zwei Angeklagte aus Weißensee wurden zu ein und zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, weil sie eine junge Frau 24 Stunden festgehalten, sexuell mißbraucht und mißhandelt hatten

Moabit. Unter den vielen DDR-Bürgern und -Bürgerinnen, die nach dem Fall der Mauer die Sexshops in West- Berlin stürmten und sich dort die Pornomagazine und -videos zu Gemüte führten, befanden sich auch der 21jährige André W. und der 20jährige Stephan L. aus Weißensee. Die beiden jungen Männer, die in Ost- Berlin nur mit großer Schwierigkeit die Sonderschule absolviert hatten, kamen aus völlig zerrütteten Elternhäusern. Ihre Erziehung bestand aus Schlägen, Sexualität war Tabu, und Aufklärung war ein Fremdwort. Die gewaltpornographischen Videos und Magazine riefen bei den beiden eine Mischung von Faszination und Angewidertheit hervor. »Die perversen Sachen waren bei uns alle verboten, ich konnte es nicht fassen«, sagte André W. gestern im Kriminalgericht Moabit, wo er sich zusammen mit Stephan L. wegen Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung verantworten mußte.

Nach eintägiger Verhandlung wurde André W. zu zwei Jahren und Stephan L. zu einem Jahr Haft verurteilt. Beide Strafen wurden auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht hielt den Angeklagten eine verminderte Schuldfähigkeit zugute. Stephan L. kam günstiger davon, weil bei ihm noch Jugendstrafrecht angewendet werden konnte. Aber auch André W., der neben der gefährlichen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und sexueller Nötigung auch noch eine Vergewaltigung begangen hatte, wurde vergleichsweise milde bestraft.

Für das Gericht stand fest, daß die beiden Angeklagten am 31. März 1990 die 21jährige Küchenhilfe Jeanette B., die sie noch aus der Sonderschule kannten, aufs übelste sexuell mißhandelt und entwürdigt hatten. Jeannette B. war von den beiden für nahezu 24 Stunden in einem Verschlag auf dem Trockenboden eines Hochhauses in Weißensee eingesperrt worden. Sie wurde mit Drohungen und Schlägen dazu gezwungen, sich zu auszuziehen, wurde gefesselt und mußte bei André W. Oralverkehr ausführen. Darüber hinaus mußte sie es über sich ergehen lassen, daß in ihren Mund uriniert wurde. Die Täter zwangen sie, Zigarettenasche vom Fußboden aufzulecken. Das Weinen und Jammern des Opfers nahmen die Angeklagten auf einem Kassettenrekorder auf. Aus diesem Band, aus dessen Abschrift das Gericht gestern zitierte, geht auch hervor, daß Jeannette B. die beiden Männer als ihre »Meister« anreden mußte.

Andr1e W. brachte zu seiner Entlastung stotternd hervor, daß die Tat nicht geplant gewesen sei. Auf die Frage, ob er Jeannette geschlagen habe, sagte der Mann, der in seiner Kindheit selbst viele Schläge über sich ergehen lassen mußte: »Ich habe ihr nur Ohrfeigen gegeben, ich habe sie nicht geschlagen.« Das Gericht hielt den Angeklagten frühere Aussagen bei der Volkspolizei vor, in denen von Besuchen in Pornogeschäften auf dem Kurfürstendamm die Rede ist. Bei einer Vernehmung soll André W. gesagt haben, daß er das, was er in den Magazinen gesehen hatte, selbst ausprobieren wollte. Diese Aussage wollte der Angeklagte gestern jedoch nicht bestätigen: »Soweit habe ich damals nicht gedacht.« Die Tatbeteiligung des Mitangeklagten Stephan L. bestand nach Auffassung des Gerichts darin, daß er voll »mitmachte«, indem er den Schlüssel zur dem Verschlag verwahrte, bei der Mißhandlung zusah, seinen Gürtel für Schläge hergab und die entkleidete Jeannette mit einer Taschenlampe ableuchtete. Auf die Frage seines Verteidigers, warum er die Frau mit der Taschenlampe abgeleuchtet habe, brachte er leise und mühsam hervor: »Ich habe noch nie eine Scheide gesehen.«

Weil sie nicht vorbestraft waren und aufgrund ihrer schweren Kindheit und geistiger Behinderung — auch André W. befindet sich laut Gutachter im »Grenzbereich der Debilität« — kamen beide Angeklagte mit Bewährungsstrafen davon. Das Gericht, das die Tat in der Urteilsbegründung als »riesige Schweinerei« bezeichnete, mit der »die Würde eines Menschen in den Dreck gezogen« wurde, wertete die eigene Rechtsprechung selbst als »Gnadenentscheidung«. Bevor das Urteil erging, hatte André W. unter Nicken von Stephan L. in seinem Schlußwort »von Herzen« versprochen, daß so etwas nie wieder vorkomme: »Es tut mir wahnsinnig leid, daß ick mir so in det Porno reinversetzt habe.« plu

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