: Befreiung aus dem Gettodenken
■ „Themen meines Lebens“: 18 letzte Essays des Psychologen und Pädagogen Bruno Bettelheim
Der 14jährige Bruno war gegenüber dem etwas älteren Otto von Eifersucht gequält, weil dieser bei den Treffen ihrer sozialistisch-pazifistischen Wiener Jungwandervogel- Gruppe begeistert von den Vorlesungen eines gewissen Sigmund Freud zu berichten wußte. Da Otto damit Brunos erste Jugendliebe beeindruckt, grübelte dieser eine ganze Nacht darüber nach, wie er seinen Konkurrenten ausstechen könnte. Gegen Morgen fiel ihm die Lösung ein: Er brauchte sich ja nur genügend Kenntnisse über diese ominöse Psychoanalyse anzueignen, um seine Freundin zurückzuerobern. Am nächsten Tag besorgte er sich in der einzigen Wiener Buchhandlung, die Freuds Werke führte, mehrere Bücher, die er angesichts seiner sittenstrengen Eltern nicht zuhause, sondern in der Schule las.
Wenn ihm seine Freundin auch bald eröffnete, so interessant seien weder Otto noch die neue Wissenschaft, Bruno Bettelheim kam vom Freudschen Werk dennoch nicht mehr los. „So bestand für mich kein Grund mehr, mich meines Mädchens wegen weiter mit der Psychoanalyse zu beschäftigen. Doch ich kam davon nicht mehr los: Eine Woche völliger Konzentration auf die Psychoanalyse, und ich war ihr fürs ganze Leben verfallen.“
Diese private Episode aus seiner Jugendzeit zeigt die Besonderheit des letzten Buches des weltweit bekannten jüdischen Psychologen und Pädagogen Bettelheim: Mehr als in früheren Publikationen illustriert er seine Reflexionen durch biographische Splitter. Ein Teil der 16 Essays wurde bereits früher veröffentlicht, ein Teil war bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt beziehungsweise wurde von Bettelheim eigens für diesen Band verfaßt. Einige Zeit vor seinem Freitod am 13.März 1990 hat er die Sammlung abgeschlossen.
Im ersten Teil der Essays setzt er sich vor allem mit der Wiener Frühgeschichte der Psychoanalyse auseinander. Bettelheim macht deutlich, daß die Pioniere der Gründerzeit wesentlich über ihre eigenen emotionalen Erfahrungen den Zugang zur neuen Wissenschaft fanden, im Gegensatz zu heute, wo die Psychoanalyse „zu einer institutionalisierten Wissensdisziplin“ geworden sei und ihre humanisierende und aufklärerische Dimension weitgehend verloren habe.
Der 1903 in Wien geborene Bettelheim war in der internationalen Öffentlichkeit vor allem durch seine milieutheoretischen Arbeiten berühmt geworden, die er ab 1943 mit autistischen und psychotischen Kindern in der „Sonia Shankman Orthogenic School“ in Chicago entwickelte. Im zweiten Teil der Essays Über die Kinder und mich selbst deutet er die scheinbar unverständlichen Verhaltensweisen solcher schwerstgestörter Kinder. Er überträgt seine Erfahrungen auch auf allgemeinpädagogische Fragen: Wie können Bücher, Museen und Fernsehfilme zu einer positiven Entwicklung von Kindern beitragen? Das wichtigste ist ihm immer das intensive Gespräch der Erwachsenen mit den Kindern über ihre Eindrücke gewesen.
Der letzte Themenbereich Über Juden und die Lager ist eng mit der Biographie des Juden Bettelheim verknüpft. 1938 war er von den Nationalsozialisten verhaftet und nach Dachau und Buchenwald verbracht worden; 1939 war ihm durch Vermittlung von Eleanor Roosevelt die Emigration in die USA geglückt. In Ein Besuch in Dachau beschreibt er seine widersprüchlichen Erfahrungen im Jahr 1955 bei seiner Rückkehr an den Ort der modernen Hölle. Er kommt nicht los von der Frage, warum Juden ihrer Vernichtung keinen größeren Widerstand entgegengesetzt haben und findet eine Erklärung im jahrhundertelang eingeübten Gettodenken, dessen verhängnisvolle Wiederkehr er auch im verbreiteten Mythos um Anne Frank analysiert. Im abschließenden Essay Befreiung vom Gettodenken widmet er sich dem Gettodenken der weißen Minderheit heute: Sie schließe sich ab gegen den armen Rest der Welt. „Wie den Juden, die im Osten selbst nach der Ankunft der Nazis in ihren Gettos blieben, scheint auch uns nur wichtig zu sein, daß die Geschäfte in unserem großen Shtetl florieren, und die übrige Welt ist uns gleichgültig.“
Nach Bettelheims Tod sind von einem ehemaligen Patienten Vorwürfe erhoben worden, er habe in der Orthogenic School — im Gegensatz zu seinen hehren ethischen Motiven — Kinder geschlagen. Die zugrundeliegenden Vorgänge sind schwierig zu rekonstruieren, sie liegen lange zurück — bereits 1973 hatte Bettelheim aus Altersgründen die Leitung abgegeben. Sicher ist, daß in der Zuschauerdemokratie einzelne Menschen wie Bettelheim mit ihren Ausnahmeleitungen hochstilisiert wurden und werden. Damit möchte man sich im Alltag auch die überall präsenten dunklen Seiten des Lebens vom Leibe und aus dem Bewußtsein halten, während die Heroen im Lichte der Öffentlichkeit die widerspruchsfreie und erfolgreiche pädagogische Praxis vorführen und vollständig geheilte Kinder „produzieren“. Das kann nicht gut gehen.
Statt Bettelheim nun zu „demontieren“ ('Newsweek‘ titelte „Beno Brutalheim“, 'Bild‘ fragte: „Bettelheim ein Kinderschänder?“), sollten wir uns auch fragen, welche Wunden die deutschen Konzentrationslager hinterlassen haben und möglicherweise neu hervorbringen. Die Untiefen dieser Geschichte sind noch nicht ausgelotet. Bettelheim hat in seiner wohl abschließend gemeinten Essaysammlung keine Lebensbilanz vorgelegt. Seine Erfahrung reichte aber so weit, daß er diese Absicht aus dem Plan seines letzten Buches ausdrücklich ausgeschlossen hat. Dies dürfte — im Blick auf die Herde der besserwissenden Unschuldslämmer heute — sein unverwechselbarer, letzter Beitrag zur Befreiung aus dem Gettodenken gewesen sein.
R. Kaufhold/W. Rügemer
Bruno Bettelheim: Themen meines Lebens. Essays über Psychoanalyse, Kindererziehung und das jüdische Schicksal. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1990, 296Seiten, 38,00 DM
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