: Messengers of God
Die Oper„The Death of Klinghoffer“ von John Adams in Brüssel ■ Frieder Reininghaus
Wie wenig die Kunstform der „Dokumentation“ mit der Wirklichkeit zu tun haben kann, zumal dann, wenn sie fürs Fernsehen betrieben wird, brachte spätestens der Golfkrieg weltweit vor aller Augen. Da lob ich mir die Operette, die so tut, als gäbe es keinerlei Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder real existierenden Zuständen — und plötzlich ist ein Stück Wirklichkeit zu begreifen, erweist sich die halbseidene Kunstform als fatal realistisch. Die Oper Nixon in China zu der Alice Goodman den Text verfaßte, John Adams die Musik komponierte, der Peter Sellars Pate stand und die der erfolgreiche Regisseur 1987 in Houston/Texas aus der Taufe hob, dieses Werk war in der imaginären Mitte zwischen Dokumentation und Operette angesiedelt.
Die auf der Bühne handelnden Personen waren der Zeitgeschichte entnommen, ihre Begegnung lag erst reichlich ein Jahrzehnt zurück; der Rahmen der Handlung hielt sich an das, was auch eine „Dokumentation“ hätte festhalten können. Doch realistisch wurde die ironische Abrechnung mit den Ritualen der Staatsbesuche, die von Tiefsinn angehauchte Erhöhung der grotesken Begegnung von amerikanischer Schwachköpfigkeit und Spießigkeit mit ostasiatischer Schlitzohrigkeit und Skrupellosigkeit, als die Librettistin der Phantasie die Zügel lockerte und erfand, was die Herren damals in Peking wirklich gesagt haben, wie sie sich beim Kulturrpogramm der Gattinnen tatsächlich zugetragen haben könnten.
Nixon in China ist eines der bemerkenswertesten Musiktheaterstücke der achtziger Jahre, weil es die Politik als Gegenstand von zeitgenössischer Oper zurückerobern half und die Trivialität dessen enthüllte, das die dokumentierenden Medien zu etwas Erhabenem stilisieren; es ist eine moderne künstlerische Lösung im Flickenkostüm der Postmoderne für den historischen Augenblick, den die Deutschen ja jetzt auch wieder so sehr lieben gelernt haben. Die Musik des John Adams lieferte die würzige Catch- up-Sauce mit einprägsamen Catch- lines der Singstimmen und neoharmonischen Rosenbögen des Orchesters.
Das Team Goodman/Adams/Sellars hat nun sein zweites Opus vorgelegt: nach der Komischen Oper die musikalische Tragödie. Wieder ein Stück, das keinen altgriechischen oder klassischen literarischen Stoff zur Vorlage hat, sondern ein Ereignis, das gerade fünf Jahre zurück lag und dessen Nachwehen am Tag der Uraufführung überall wahrzunehmen waren: Die italienische Justiz verlangte die Auslieferung des in Athen festgenommen Khaled Abdulrahim, der wegen seiner Beteiligung an der Entführung des Kreuzfahrtschiffes „Achille Lauro“ lebenslänglich hinter Gitter soll. Um die Entführungsstory geht es in der neuen Adams-Oper — und fast möchte man glauben, das (Musik-)Theater greife gelegentlich in die große Politik ein, erinnere sie zumindest daran, daß da noch eine Rechnung offen war. Vielleicht aber ist der Staatsanwalt in Genua, der den Auslieferungsantrag stellte, ein eingfleischter Opernfreund, der sich genau den richtigen Tag für seinen Vorstoß aussuchte. Freilich widerstanden die amerikanischen Opern- Macher der Versuchung, ein reißerisches Kolportagestück zu entwickeln. Sie zielten auf Höheres.
Sieben gravitätische Chöre strukturieren die Partitur von The Death of Klinghoffer: archaisierend ihr musikalischer Duktus, beschwörend die Texte, welche die Glaubensunterschiede zwischen Arabern und Juden markieren. Die Chöre beklagen die Gewaltförmigkeit der Geschichte und fordern die Rechte der Völker ein. Die exilierten Palästinenser klagen vernehmlich über die Zerstörung ihres Vaterhauses — und mehr noch die Juden aus der Diaspora: „Meine leeren Hände sollen von solchem Leiden künden, das an sich selbst erinnert.“ Das Verhängnis einer vieltausendjährigen Geschichte schafft sich Laut und erscheint im Verbund einer adretten Passionsmusik. Zwischen den Chören die Handlungsebene. Vorspiel im Frühjahr 1985: verstörte Familienidylle in der Sitzecke einer Familie der Upper middle-class in New Jersey, in der Vater/ Mutter/Sohn trostlos aneinander vorbeireden. Und auf Urlaubsgedanken verfallen. Die Musik prunkt mit einer diskreten Wagner-Reminiszenz. Peter Sellars hat die Spaghetti auf dem Teller weggelassen und verweigert den Ausblick auf das vom Libretto vorgesehene Medienzentrum des Haushalts, das der Vater Leon nervös von einem Programm zum anderen jagt.
Überhaupt hat sich Sellars, der durch recht wilde Umnutzung historischer Opern in Europa bekannt wurde, bei dieser zeitgenössischen Geschichte die bemerkenswerteste Zurückhaltung auferlegt: kein Schiff wird kommen. Fast alle Requisite ist ausgespart. Nur ein Leichtmetallgerüst, das bis in den Bühnenhimmel ragt, mit anhebbaren und absenkbaren Projektionsflächen (zur Vergrößerung der Gesichter einzelner Sänger) dient den Choristen und den Terroristen als Aufmarschbasis — ein kühles Gerippe für eine oratorisch gehaltene Produktion, die sich von äußerlichen Theatereffekten abkehrt und eine neue Innerlichkeit vorführt. Einige glatte metallene Säulen in diesem Gerüst erinnern entfernt an Schiffstechnik; zwei von ihnen werden, in einem besonders frommen Augenblick, erleuchtet. Und wir, sofern wir der Aufforderung Folge leisten, mit ihnen. Solche Erweckungsheraldik, die ja beispielsweise auch bei Großveranstaltungen der Moon- Sekte eingesetzt wird, paßt nicht schlecht zur Musik von John Adams. Es ist eine Nummern-Oper mit statischen Einzelteilen, in denen — wie in der barocken Oper — die Einheitlichkeit des Affekts vorherrscht. Durch Rollentausch der Sänger betont Sellars, wie rasch jedes potentielle Opfer auf der Täterseite stehen kann. Die Bewegung, die dem Stück programmatisch abgeht, wird stellvertretend durch ein von Mark Morris choreographiertes Ensemble ins Spiel gebracht: Die Tänzerinnen und Tänzer verkörpern die Figuren des Librettos, ihre Gemütsbewegung oder Erstarrung.
Mit der künstlerischen Überhöhung der Schlüsselszenen der „Achille Lauro“-Entführung — Erstürmung, Geiselnahme, Warten in Ungewißheit, Tod Leon Klinghoffers, Beseitigung der Leiche, Mitteilung an die Witwe — intendierte das Autoren-Team eine neue Form von Welttheater: schlicht in den Sprachformen, klar und moralisch die Botschaft, raffiniert in der Suggestionswirkung der rhythmisch vertrackten, aber mit einfachen Oberstimmen ausstaffierten Musik, verallgemeinert durch die Verfremdung des realistischen Ambientes ins Zeit- und Ortlose. Wenn Frau Klinghoffer, die vom Tod ihres Mannes im Rollstuhl nichts mitbekam, schließlich vom Kapitän über die schreckliche Wahrheit informiert wird, stellt sie in trockener Verzweiflung fest, daß die Welt wohl interveniert hätte, wenn statt des einen eine große Zahl von Opfern zu beklagen gewesen wäre. Der Epilog fordert direkt Gottes Hilfe an. Es mag die Hilfe jenes Gottes sein, den Präsident Bush in seinen Ansprachen zum Golfkrieg regelmäßig anrief. Diese Oper, im Vorfeld dieses Krieges entstanden, vermeidet die offensichtliche Parteinahme im dargestellten Konflikt. Aber sie kann nicht aus ihren amerikanischen Häuten. Peter Sellars gab sich alle erdenkliche Mühe, durch den gewählten Weg der Stilisierung den Eindruck zu vermeiden, dieses Werk diene nicht der Nachdenklichkeit über Gewalt und Ausgeliefertsein, sondern befördere unterschwellig die Interventionsabsichten. Freilich gerät das Unternehmen, dessen Textbasis vor mancher Unsäglichkeit nicht zurückschreckt, so in die Nähe jener Sakralkunst, die getrost als Kitsch bezeichnet werden kann. Wenn er so weitermacht, empfiehlt sich Sellars als Spielleiter für Oberammergau.
Daß sich die Oper an ein Thema wie Klinghoffers Tod herantastet, erscheint als Zugewinn für das Musiktheater. Aber in der Gestalt, die es angenommen hat, ist dieses Werk gescheitert. Gescheitert auch als Versuch über die ungeheure Banalität, die Banalität des Ungeheuren.
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