: Jeden Montag soll der Alex voll werden
■ Montagsdemo auf dem Alex mit rund 1.500 TeilnehmerInnen/ Lauter Ruf nach Neuwahlen/ Käthe Reichelt: »Wir jammern nicht, wir schreien!«
Berlin. Nun hat auch Berlin die Tradition der Montagsdemonstrationen wiederaufgenommen. Rund 1.500 Menschen versammelten sich gestern um 18 Uhr um die Weltzeituhr am Alex — etwas mehr, als am letzten Montag, als man vom Lenindenkmal zur Treuhandanstalt, »von Anschiß zu Anschiß«, marschierte. »Wahlbetrüger Kohl, Treuhandmafia und CDU-Politbüro — ab in die Wüste!« war auf Transparenten zu lesen. Oder: »Sie wollen unser Bestes — in ihre Taschen!«. DDR-Flaggen und eine einsame SPD-Fahne wehten, einige Eifrige sammelten »Unterschriften für Neuwahlen wegen Wahlbetrugs«. Eine vierköpfige Gruppe hatte auf ihren Plakaten das Vaterunser extra für die Götter am Rhein verändert: »Bonn: Unsere tägliche Arbeit gib uns heute! Bonn: Wir sind die Kraft, bist du die Herrlichkeit? Bonn: Und führe uns nicht in Versuchung. Bonn: Erlöse uns von dem Übel.«
»Rückt doch ein bißchen zusammen in diesem immer kälter werdenden Land«, forderte ein Sprecher die Demonstrierenden auf. Er kündigte gleichzeitig an, daß die »Bürgerversammlungen« von nun an immer am Montag um 18 Uhr auf dem Alexanderplatz steigen sollen. Am Ostermontag allerdings wolle man sich dem Ostermarsch anschließen, und am übernächsten Montag, den 8. April, soll vom Alex zum Reichstag demonstriert werden.
Die Herren in Bonn nähmen die Probleme in der Ex-DDR einfach nicht wahr, kritisierte Ingrid Köppe, Bundestagsabgeordnete des Bündnis 90: »Während die Menschen im Osten Existenzängste haben, pflegt der Kanzler seinen Bauch.« Einige DemonstrantInnen sahen das offenbar ähnlich: »Herr Bundeskanzler, komm doch zu uns, so kannst du dir deine Diät sparen«, hieß es auf ihrem Transparent.
Ein anderer Sprecher machte auf die Wohnungsnot und ab heute drohende Räumungen von besetzten Häusern wie zum Beispiel in der Linienstraße aufmerksam: »Wir wissen, daß die Polizei Ausgangssperre hat.« Wenn geräumt werde, solle um 14 Uhr auf dem Rosa-Luxemburg- Platz eine Demonstration stattfinden.
Den größten Beifall erhielt die Schauspielerin Käthe Reichelt vom Deutschen Theater. »Es wird uns vorgeworfen, daß wir jammern. Wir jammern nicht, wir schreien!« Allzu deutlich habe Bundesbankpräsident Pöhl mit seinen Worten signalisiert: »Wenn ihr die Löhne in der alten DDR erhöht, könnt ihr auf die Industrie bis zum Sankt Nimmerleinstag warten. Die DDR soll ein Billigland bleiben. Die Dritte Welt vor der Haustür ist das Ziel der Industriellen — vor jedem Auge eine harte Mark.« Aber dann müsse man ihnen in die Ohren schreien, »was sie nicht hören wollen: Wir sind das Volk, und wir rufen nach Neuwahlen!«
Die Kundgebung dauerte bei Redaktionsschluß noch an. usche
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