: Bonn: Zurück zur Provinz
Ein neuer Kreis von Berlin-Befürwortern auf der Suche nach alten und neuen (Gegen-)Argumenten in der Hauptstadtfrage/ Internes Murren über Hans-Jochen Vogels Geschichtsverkürzung ■ Aus Bonn Bernd Müllender
Eine Prominentenelf des Deutschen Bundestags, quer durch alle Fraktionen (außer PDS), hat in der Hauptstadtdebatte eine neue Initiative pro Berlin gestartet. Vor der Bonner Presse erläuterten die Abgeordneten gestern ihren Antrag zur „Vollendung der Einheit Deutschlands“, der „die Entscheidung für Berlin ein Bekenntnis zur ganzen deutschen Geschichte und zugleich zu einem geschichtlichen Neuanfang“ nennt. Ausdrücklich führt die Berliner Elf Präsident v. Weizsäcker als argumentativen Kronzeugen an und stellt sich hinter seinen Pro-Berliner Februar-Vorstoß. Bonn indes möge für den Verzicht eine Hilfe zur Reprovinzialisierung bekommen: statt Bundestag und Regierung „die Übernahme und Ansiedlung neuer Funktionen und Institutionen von nationaler und internationaler Bedeutung“. Sprecher Hans-Jochen Vogel gestern mitfühlend: „Bonn soll so wenig wie möglich leiden.“ Zu den Erstunterzeichnern gehören neben Vogel Willy Brandt und Wolfgang Thierse von der SPD, die CDU-Minister Schäuble und Krause, Otto Solms und Burkhard Hirsch (FDP), Oscar Schneider (CSU) und Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90.
Beim „Bekenntnis zur ganzen deutschen Geschichte“ pickte sich jedoch insbesondere SPD-Noch- Chef und Berlins Exbürgermeister Jochen Vogel nur die Rosinen heraus. Für sein Berlin-Votum nannte er bedeutende historische Momente wie Luftbrücke, Reuter-Rede, Alex- Demos; nach der bürgerlichen Freiheitsbewegung 1848 machte er nach 1933 (Es gab doch kaum eine Stadt mit so wenig NSDAP-Wählern) allerdings einen großen Sprung über 20 Jahre: „Und dann: 1953, wo war denn der Aufstand? In Berlin. „Ich weiß wirklich nicht, wo da die negativen Umstände der Berlin-Kritiker liegen.“ Das wußten ganz genau zwei ehemalige Ostler, die Unstimmigkeiten in der blockübergreifenden Bonner Berlin-Koalition offenbarten. Wolfgang Ullmann war der eine: „Man kann sich nicht die eigene Geschichte zusammenschneidern.“ Und der andere war Vogels Parteikollege Thierse: Berlin stehe „nicht als ein Ausschnitt der Geschichte da, sondern als doppeltes Symbol — für Freiheit und für Unterdrückung“.
Bei der angestrengten Suche nach neuen Argumenten pro Berlin kam auch Originelles, bislang Ungehörtes und Unerhörtes zustande: Es müsse schnell gehandelt werden, so Ullmann, „sonst gehen wir der größten Blamage der deutschen Nachkriegsgeschichte entgegen“. Da sei der amerikanische Präsident, der Nicht-Bonner Kennedy, „konsequenter gewesen als wir“. Eine Entscheidung für Bonn bedeute zudem „Berlin als ehemalige Hauptstadt der DDR posthum zu rechtfertigen“. Der Kostenstreit bei einem Umzug sei „ein schmähliches Argument“, das „aus der Stammtisch- und Bierseidellobby“ komme. Bonn-Befürworter, so Thierse, „argumentieren aus versteckter Angst“.
Der liberale Bildungsminister Rainer Ortleb argumentierte dagegen aus eigener Anschauung: Wenn er mit dem Flugzeug Richtung Osten fliege, „dann sehe ich immer, im Wortsinn, wie die Lichter mehr und mehr ausgehen“. Und Jochen Vogel fand Vorbilder, die für Berlin sprächen: „In den 16 Bundesländern sind die meisten Hauptstädte auch in den größten oder zumindest in großen Städten.“ Auch in Bayern, analysierte Vogel, sei München Hauptstadt und nicht Straubing. Ausdrücklich sprachen sich alle für eine Versachlichung der Debatte aus: Wolfgang Thierse geißelte die Bonn-Befürworter, die „in heiligem Eifer Unterschriften eingesammelt“ hätten.
Ein Streit, der Kompromisse kaum noch zuläßt. Von deutscher Teilung in der Hauptstadtfrage ist kaum noch die Rede. Auch der Vorschlag der 'Zeit‘, einfach die Namen zu tauschen, auf daß man dann sagen könne „Unsere Hauptstadt heißt Berlin, und doch wäre es Bonn“, bleibt chancenlos. Und die Bonner flüchten sich mit einem ihrer Stadtteile ironisch in einen ideomatischen Imperativ: Bonn-Endenich!“
Der jetzige Zeitplan sieht für Mitte April Beratungen bei der Parlamentspräsidentin vor und Beschlußvorlagen der beiden BB-Streiter für Ende April. Die Entscheidung des Parlaments, ob Bonnlin oder Bernn, soll dann — ganz fraktionszwanglos — bald danach folgen.
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