piwik no script img

Mit der Bonner Montagsruhe ist es vorbei

■ Gestern versammelten sich in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten wieder Zehntausende, um gegen die Bonner "Verkohlung" zu protestieren.

Mit der Montagsruhe ist es vorbei Gestern versammelten sich in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten wieder Zehntausende, um gegen die Bonner „Verkohlung“ zu protestieren.

Ursprünglich waren sich die Leipziger Metallgewerkschafter gar nicht sicher, ob sie wirklich an die Tradition der Montagsdemonstrationen anknüpfen sollten. „Wer weiß, ob wir das durchhalten“, gaben einige zu bedenken, schließlich leben die Montagsdemonstrationen von einer Dramaturgie der Steigerung. Inzwischen sind sie sicherer. Beim ersten Mal waren es rund 25.000, die ihre Runde um den Leipziger Innenstadtring zogen. Vor einer Woche waren es schon mehr als 70.000. Und für die Demonstration am gestrigen Abend erwartete der Leipziger IGM-Bevollmächtigte einen „granatenmäßigen Erfolg“.

Die Initiative der IG Metall, die in Leipzig zunächst allein für die Wiederbelebung der Montagsdemonstrationen gesorgt hatte, hat offenbar gezündet. Inzwischen haben sich der DGB, die anderen Einzelgewerkschaften und eine Menge weiterer Organisationen dem Aufruf angeschlossen, vom Mieterverein bis zu den Bürgerbewegungen. Auch die politischen Parteien von SPD bis PDS haben sich eingereiht. Aber die politische und organisatorische Koordination der Leipziger Proteste liegt nach wie vor bei der IG Metall.

Ähnlich ist es in anderen Regionen der neuen Bundesländer. Auch hier haben sich die Gewerkschaften zum Träger des Protests gegen die Folgen des allseitigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs entwickelt: In den ökologisch und ökonomisch am Boden liegenden Chemieregionen, wie zum Beispiel in Leuna am letzten Dienstag, rief die IG Chemie zu Massenprotesten auf.

Die Gewerkschaften können den Zusammenbruch der DDR-Ökonomie weder verhindern noch aufhalten. Aber sie sind derzeit die einzige mobilisierungsfähige politische Kraft, die den Protest der Bevölkerung artikulieren und auch organisieren kann. Die Parteien kommen dafür nicht in Frage: Die Regierungsparteien CDU und FDP sitzen wegen des Wahlbetruges auf der Anklagebank, die SPD ist praktisch kaum präsent, und die Bürgerbewegungen sind als politische Struktur zu ungefestigt, um jetzt dem politischen und sozialen Protest eine Richtung zu geben. Nur die PDS versucht nun, auf der Protestwelle mitzuschwimmen, besitzt aber nach wie vor in der Bevölkerung keine Glaubwürdigkeit.

Die Gewerkschaften halten auf Distanz zur PDS und versuchen zumindest in Leipzig, an die Tradition der Bürgerbewegungen anzuknüpfen. Sie können versuchen, den ökonomischen Zusammenbruch so gut es geht sozial abzufedern und Anstöße für die notwendige Strukturveränderung zu geben. Zu diesem Zweck werden jetzt überall runde Tische gefordert, um wenigstens Ansätze eines gesteuerten Strukturwandels zu entwickeln und damit Perspektiven für die Regionen, die Kommunen und die sanierungsfähigen Betriebe zu erschließen. Längst ist klar, daß die Investitionen aus dem Westen weit unter dem notwendigen Niveau bleiben und die meisten Betriebe sich entweder selbst sanieren müssen oder eben untergehen.

Derzeit läuft die Strategie der Gewerkschaften in vielen Fällen darauf hinaus, für die Menschen in den neuen Bundesländern Zeit herauszuschlagen: durch die Forderung nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, durch Qualifizierungs- und Umschulungsprogramme möglichst innerhalb bestehender Arbeitsverhältnisse. Je besser ihnen das gelingt, desto mehr treiben sie die Kosten der Einheit in die Höhe — kein Wunder also, daß sich die Demonstrationen auch zunehmend gegen Bonn richten. Der Bundesregierung wird Betrug vorgeworfen. Aber der Opposition traut man auch nicht viel mehr zu. So hat sich in Leipzig niemand dafür starkgemacht, bei der gestrigen Montagsdemonstration für die angereiste SPD-Prominenz einen Platz auf der Rednertribüne freizumachen. „Sie sollen einfach erst mal mitlaufen“, hieß es aus dem Kreis der Veranstalter. Martin Kempe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen