: Japanisches Wunschdenken
Verpassen Tokio und Moskau die historische Chance zur Verbesserung ihrer Beziehungen? ■ Aus Tokio Georg Blume
Präsident Gorbatschow verstehe das Gefühl des japanischen Volkes, und was er den Japanern anzubieten habe, gehe weit über die Erwartungen in Tokio und das bisher von sowjetischen Politikern Gesagte hinaus: Mit solch demonstrativem Optimismus berichtete der Generalsekretär der japanischen Regierungspartei, Ichiro Ozawa, von seinem gestrigem Gespräch mit dem sowjetischen Präsidenten in Moskau.
Zwei Stunden lang hatten die Herren über den Verbleib der nach dem Krieg von Stalin annektierten vier Kurileninseln diskutiert, deren Rückgabe Tokio seit Jahrzehnten einfordert. Doch Ozawa, der als starker Mann der japanischen Regierung gilt, konnte auch diesmal in dieser Frage keine neue Kompromißformel vorstellen. Seine Worte unterschieden sich nicht von denen, die andere vor ihm in Moskau vortrugen. „Japan will wirklich alle vier Inseln zurückhaben“, betonte Ichiro Ozawa. Was aber läßt ihn heute noch an diese Forderung glauben?
Drei Wochen vor dem mit Spannung erwarteten Besuch des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im April in Tokio versuchen sich Regierung, Parteien und Medien in Japan mit aller Kraft einzureden, daß ein historischer Kompromiß zwischen Tokio und Moskau unmittelbar bevorsteht. Zeitungen berichten von Milliardenbeträgen, die angeblich bereitstünden, die leeren sowjetischen Kassen zu füllen. Ministerialbeamte schwärmen von den Angeboten sowjetischer Unterhändler, die angeblich die Rückkehr der Kurileninseln zur Nation versprechen. Und Regierungschef Toshiki Kaifu ergriff erst gestern vor dem Parlament in Tokio das Wort, um eine „tapfere Entscheidung“ von Präsident Gorbatschow herbeizureden.
Bislang verhindert der Kurilenstreit alle weiteren politischen und wirtschaftlichen Kontakte zwischen Japan und der Sowjetunion. Doch leider sind auch die hoffnungsvollen Äußerungen dieser Tage in Tokio nur Ausdruck bisweilen gern gepflegten Wunschdenkens, dem die japanischen Verantwortlichen immer dann verfallen, wenn es für sie darum geht, sich vor einem schwierigen politischen Entschluß zu drücken.
Doch die Entscheidung, von zweifellos weltpolitischer Tragweite, steht oder fällt in diesen Tagen. „Ich glaube, daß die Chance für Japan und die Sowjetunion jetzt am größten ist“, sagte Ichiro Ozawa vor seiner Abreise nach Moskau. „Wenn wir diese Chance vorbeiziehen lassen, werden sich die Beziehungen beider Länder erneut zurückentwickeln.“ Zumindest darin wird derzeit kaum ein seriöser Beobachter der japanisch-sowjetischen Beziehungen dem Generalsekretär wiedersprechen wollen.
Noch ist Annäherung nicht absehbar. Stur beharrt Tokio auf den Hoheitsrechten für alle vier umstrittenen Inseln. Zu oft schon haben Nippons Politiker die Kurilen als nationales Heiligtum beschrieben, als daß sie eines Besseren zu belehren wären. Michail Gorbatschow allein, so scheint es, könnte sich anders entscheiden.
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