KOMMENTAR: Ein »dringender Wunsch«
■ Die Öffnung der Havelchaussee ist beschlossene Sache
Die Nachricht hat etwas Anachronistisches: Die Havelchaussee — einstmals vielgenutzter Naturspielplatz für die frontstädtischen Westberliner — wird wieder für den Verkehr freigegeben. So als müsse man den eingesperrten Seelen ein Ausflugsziel zurückgeben, als gäbe es kein Umland zu entdecken. Der Beschluß, mit der Öffnung »einem dringenden Wunsch eines großes Teils der Bevölkerung« auf Naherholung zu entsprechen, ist nicht nur unter umweltpolitischen Gesichtspunkten absurd, sondern offenbart, wie hoch die Mauer noch in den Köpfen der Schöneberger Politgarde steht.
Die CDU hat mit der Wiedereröffnung der heißumkämpften Seemeile gleich zwei Dinge erledigt: zum einen wurde dem Koalitionspartner SPD, der die Schließung vorantrieb, kräftig vors Schienbein getreten und zum anderen gleichzeitig die CDU-Wählerschaft der »freien Fahrt für freie Bürger« ruhiggestellt. Dementsprechend dünn sind auch die Argumente, die der CDU-Verkehrssenator gestern vorlegte: »Ungehindert« — ohne Auto scheint der Ausflügler kastriert — müßten die BerlinerInnen wieder das beliebte Sonntagsziel erreichen, vor allem natürlich die »kinderreichen Familien« und »die älteren Mitbürger«, um die man sich ja immer schon beim Thema Havelchaussee so gesorgt habe. Kein Wort von der Wassersportler-Lobby, die ihre Surfbretter buckeln mußte, und den larmoyanten Restaurantbesitzern, die ihre Umsätze zur Regierungsfrage erklärten. Mittlerweile ist es ein offenes Umfragengeheimnis, daß die Mehrzahl der BerlinerInnen für eine autofreie Havelchaussee votiert. Gänzlich peinlich wirkt auch der Versuch, die vom ehemaligen Diepgen-Senat erlassenen Wasserschutzbestimmungen nachträglich wieder zu unterlaufen mit dem Hinweis, man habe eben nie messen können, wie schädlich der Autoverkehr tatsächlich für das Grundwasser sei.
Der Avus-Effekt feiert also wieder fröhliche Urständ, denn nur wer überall gerädert ist, ist wirklich frei. Nana Brink
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