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Die Lebenslüge des Generalbundesanwalts

■ Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe setzt unbeirrt auf das Rechtskonstrukt der "kollektiven Willensbildung" bei der RAF, weil dies das Urteilen leichter macht. Doch RAF-Aussteiger aus der...

Alexander von Stahl zeigte sich hoch zufrieden, nicht nur mit dem „Erkenntniszuwachs“, den ihm die in der DDR festgenommenen, ehemaligen Mitglieder der „Rote Armee- Fraktion “ (RAF) über die Anschläge der Gruppe zwischen 1977 und 1981 geliefert hatten. Auch bezüglich der „Strukturen der RAF“ sehe man nach den Detailaussagen der Aussteiger klarer denn je, verkündete der Generalbundesanwalt nicht ohne Stolz. Das war Anfang November vergangenen Jahres, als der oberste Ankläger der Republik der Öffentlichkeit den Stand der Ermittlungen gegen die zehn im SED-Staat untergetauchten ehemaligen Gruppenmitglieder referierte. Insbesondere an einem Punkt sah von Stahl sich und seine Behörde in vollem Umfang rehabilitiert: Es habe sich nämlich gezeigt, daß „der Entscheidungsfindung innerhalb der Gruppe (gemeint ist die RAF, d.A.) eine kollektive Willensbildung zugrunde lag, so wie es in den Feststellungen der einschlägigen Urteile gegen führende Kommandomitglieder ausgeführt worden ist“. Ein für alle mal vom Tisch sei damit der in der Vergangenheit vielfach erhobene Vorwurf, Bundesanwaltschaft und Gerichte hätten sich des „Konstrukts der Kollektivität“ der RAF lediglich bedient, um jedes Gruppenmitglied, unabhängig vom jeweils nachweisbaren konkreten Tatbeitrag, pauschal verurteilen zu können.

Doch von Stahl freute sich zu früh. Die zentrale These von der Kollektivität aller Illegalen ist eine Fiktion. Inzwischen liegen zahlreiche Aussagen aus der Aussteigergruppe vor, die das glatte Gegenteil zu belegen scheinen. Danach waren in aller Regel nur die unmittelbar an einem RAF-Kommando Beteiligten über den Ablauf der Anschläge informiert. Andere Gruppenmitglieder — selbst solche, die beispielsweise als „Briefträger“ Bekennerschreiben an Medienredaktionen weitergaben oder konspirative Wohnungen anmieteten — kannten weder den Zeitpunkt noch den genauen Ort. Unter Umständen wußten sie nicht einmal das Ziel eines Anschlages, geschweige denn waren sie vorher nach ihrer Meinung zu dieser oder jener Aktion befragt worden.

Die Bundesanwaltschaft stützte sich bei ihrem November-Resümee insbesondere auf Aussagen des inzwischen zu zwölf Jahren Haft verurteilten Werner Lotze. Der hatte den Behörden zwischen Juli und Oktober 1990 in der Tat offenbart, in der Gruppe sei „solange diskutiert worden, bis alle einverstanden waren“. Zwar habe es Meinungsführer gegeben, die „einen gewissen Druck auf die übrigen Gruppenmitglieder ausgeübt“ hätten, so daß diesen „zuletzt fast nichts anderes übrig blieb, als ihre gegenteilige Meinung aufzugeben“. Diese Form der Willensbildung sei jedoch, so Lotze damals, „die selbstverständliche Konsequenz“ der Vorstellung gewesen, „daß jedes Gruppenmitglied für alles verantwortlich war, was die RAF unternahm“. Jeder sei grundsätzlich für jede Aufgabe zuständig gewesen, die „arbeitsteilig abgestimmten Beiträge“ seien als gleichwertig angesehen worden.

Doch Lotze vollzog schon bald nach der Pressekonferenz der Bundesanwaltschaft eine Kehrtwende und korrigierte sich schriftlich gegenüber der Anklagebehörde. Nach der Lektüre der Einlassungen anderer DDR-Heimkehrer, erkannte er einen entscheidenden „Fehlschluß“ in seinen Aussagen: Tatsächlich seien nur die Protagonisten, die führenden Mitglieder der RAF so vollständig informiert und am Diskussions- und Entscheidungsprozeß kontinuierlich beteiligt gewesen, wie er es zunächst beschrieben habe. Da er selbst 1979 — zur Zeit des Anschlages gegen den Oberkommandierenden der US-Streikräfte in Europa, General Haig — dieser Führungscrew angehört habe, habe er seine persönliche Erfahrung irrtümlich auch auf andere Gruppenmitglieder übertragen. In einem Papier zur „kollektiven Entscheidungsfindung und Verantwortung“ erläuterte Lotze Ende vergangenen Jahres gegenüber der Bundesanwaltschaft noch einmal detailliert seine Erfahrungen. Das „Prinzip der Kollektivität“ als bewußte Verneinung hierarchischer Unterordnung und Befehlsverhältnisse, als Lebensform und Voraussetzung für das Leben in der Illegalität sei in der RAF nie mehr gewesen als ein theoretischer Anspruch. In der Praxis „gab es vielmehr eine starke Abstufung zwischen den einzelnen Mitgliedern, die letztlich einer Hierarchie gleichkommt und auch einem ,Befehlsverhältnis' entspricht“, schrieb Lotze. Unter den Bedingungen einer von der Außenwelt vollständig isolierten illegalen Gruppe — das bedeutet enormer Fahndungsdruck und für die Mitglieder die brutale Alternative: Verhaftung, Tod oder Verrat — sei es für den Einzelnen „fast unmöglich gewesen, seine Widersprüche und Ängste zu klären“. Die alltäglichen Aktivitäten in der Gruppe hätten deshalb angesichts fehlender persönlicher Perspektiven bei einer Reihe von Illegalen sicher „nichts mit einer bewußten Entscheidung für die Aktivitäten, im Sinne einer Identifikation zu tun“. Die „freie Entscheidung, die eine gleiche, gemeinsame Verantwortung nach sich ziehen würde“ sei wegen „des gesamten inneren und äußeren Druckes“ nicht mehr möglich gewesen.

Lotze unterscheidet in seinem Papier zwischen denen, „die die Aktionen betrieben“ und denen, die sich unterzuordnen hatten. Sein niederschmetterndes Resümee: „Die Kollektivität, wie sie die RAF immer für sich postuliert hat, ist statt der Möglichkeit einer Befreiung zu dem Mittel geworden, über das die Selbstaufgabe des Einzelnen lief“. Er werfe sich vor, schloß Lotze die schriftliche Korrektur seiner ursprünglichen Einlassungen, den Charakter der gruppeninternen Diskussionen bei den Vernehmungen im Sommer und Herbst 1990 „nicht deutlich genug gemacht zu haben“.

Das Papier des Gefangenen scheint nicht nur deshalb glaubwürdig, weil es ihn selbst nicht entlastet, sondern auch, weil es im Grunde zusammenfaßt, was andere aus der in der DDR festgenommenen Aussteigergruppe in den wochenlangen Verhören und in vielfältigen Variationen immer wieder bestätigten. Susanne Albrecht beispielsweise (die in Stuttgart-Stammheim ab Ende April vor allem wegen des RAF-Anschlags auf den Bankier Jürgen Ponto im Sommer 1977 vor Gericht stehen wird) spricht von der „Führungsebene“ und einer insgesamt „gespaltenen Gruppe“. Die damaligen Mitglieder der RAF versucht sie drei unterschiedlichen Teilgruppen zuzuordnen: „Der eine Teil verkörpert durch jeden die RAF. Alle wollen dasselbe und bringen die gleiche persönliche Bereitschaft und Motivation mit. Der andere Teil, das sind diejenigen, die eher Sympathisanten oder Unterstützer sind und eigentlich gar nicht dazugehören. Die Zweifler, die keine Aktion machen. Als dritte Gruppe würde ich diejenigen bezeichnen, die entweder anfangs voll diese Identität hatten, aber ab irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr, oder umgekehrt“.

Daß diese Zersplitterung des sogenannten RAF-Kollektivs praktische Konsequenzen im „Guerilla- Alltag“ nach sich zog liegt auf der Hand. Und die Bundesanwälte und Beamten des Bundeskriminalamtes bekamen das von allen Aussteigern zu hören. „Gleichberechtigung“, sagt Sigrid Sternebeck, der ihre angebliche Beteiligung an der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977 zur Last gelegt wird, sei nie mehr gewesen als ein ideologisches Postulat. Von konkreten Tatplanungen habe sie praktisch nichts erfahren, sie seien nicht mit ihr diskutiert worden. Beispiel: Über den als Entführung geplanten Anschlag auf den Bankier Jürgen Ponto im Sommer 1977 sei in der Gruppe nicht gesprochen worden — auch nicht im nachhinein. Susanne Albrecht, die bei dem Attentat als Türöffnerin fungiert hatte, sei sogar „verboten worden, darüber zu reden“. Übereinstimmend berichten Sternebeck und Silke Maier-Witt, über die „gelungene“ Schleyer-Entführung hätten sie und andere Gruppenmitglieder erst aus den Medien erfahren.

Die Kommunikation in der Gruppe war, wie in Guerilla-Gruppen überall auf der Welt, aus wohlverstandenem Eigeninteresse auf das Notwendigste beschränkt. Sigrid Sternebeck etwa erfuhr eher zufällig während der Ausspähung des Ortes, an dem in Belgien der Nato-General Haig in die Luft gesprengt werden sollte, daß keine Entführung nach dem Muster der Schleyer-Aktion geplant sei, sondern ein Sprengstoffanschlag. Sternebeck über ihre damalige Reaktion: „Ich war sehr überrascht und ziemlich empört, daß mir keiner vorher davon etwas gesagt hatte“. Sie habe das Gefühl gehabt, „daß ich mal wieder völlig danebenlag“ und habe sich danach an den Vorbereitungen zu dem Anschag nicht mehr beteiligt.

Ähnliche Erfahrungen machten praktisch alle späteren Aussteiger. Immer wenn es ernst wurde, wenn über konkrete Entscheidungen, zum Beispiel auch über die Kontakte zu den Palästinensern palavert wurde, saßen die führenden Leute allein beisammen, wurden die unsicheren Kantonisten vor die Tür geschickt. Henning Beer: „Dann wurde einfach gesagt, geh doch mal raus“.

Die Gründe für diese Art der „Kommunikationskultur“ liegen auf der Hand und wurden auch offen angesprochen. Silke Maier-Witt im Zusammenhang mit Schleyer: „Am Entscheidungsprozeß, ob die Aktion stattfindet oder nicht, war ich nicht beteiligt. Ich habe auch nicht gewußt, wie die gesamte Aktion geplant war. Es war vorgesehen, daß niemand mehr als unbedingt nötig wußte, damit keiner allzuviel sagen kann, falls er festgenommen werden sollte“. Und allgemeiner: „In der Praxis sah es so aus, daß Teilgruppen der RAF Aktionen planten und durchführten, von denen wiederum andere Teilgruppen nichts wußten beziehungsweise erst im Nachhinein davon erfuhren. Es mag allerdings sein, daß eine Führungsgruppe der RAF, bestehend aus Altmitgliedern, Kenntnis von allen Aktionen und den Vorbereitungen hatte.“ Die überfällige Neubewertung der inneren Struktur der RAF durch die Staatsschutzbehörden hat alles andere als akademischen Charakter. Von ihr nämlich wird maßgeblich abhängen, wie die Urteile gegen aktuelle oder ehemalige Mitglieder der RAF künftig ausfallen. Im pikanten Gleichklang mit den „Staatsfeinden“ von der RAF hat die bundesdeutsche Justiz ein Jahrzehnt lang die Ideologie von der „kollektiven Willensbildung“ der Gesamtgruppe für bare Münze genommen — nicht, weil man den RAF-Aktivisten ihre Theorie wirklich glaubte, sondern weil viele Urteile nur so möglich waren. Und das eine oder andere Fehlurteil, muß man befürchten.

Eines allerdings hat sich nach den Aussagen Susanne Albrechts bereits als „richtig“ erwiesen. 1985 verurteilte das OLG Stuttgart Christian Klar unter anderem wegen des Mordes an Jürgen Ponto zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das, obwohl die Richter überzeugt waren — und dies in ihre Urteilsbegründung schrieben —, daß der Verurteilte bei dem Mord selbst „nicht anwesend“ war. Die Gruppe hätte jedoch unter Beteiligung Klars kollektiv beschlossen, Ponto zu töten, falls dieser Widerstand leiste. Tatsächlich hat Klar den Bankier, nach der Aussage von Susanne Albrecht, selbst erschossen.

„Ich vertraue darauf“, schrieb Monika Helbing im vergangenen Sommer noch aus DDR-Haft, „daß in einem zukünftigen vereinten deutschen Staat nicht länger nach dem Grundsatz der ,Kollektivität bei RAF-Anschlägen‘ verfahren wird, wie das unter dem Einfluß der bisherigen Bundesanwaltschaft unter Führung des ehemaligen Generalbundesanwaltes Rebmann üblich war. Ich vertraue auf die ,Rechtsstaatlichkeit‘ eines zukünftigen vereinten deutschen Staates und hoffe auf einen fairen Prozeß, in dem die Richter nach dem Grundsatz: ,in dubio pro reo‘ ihr Urteil über mich fällen werden.“

Auf ein entsprechendes Signal aus Karlsruhe wartet die Öffentlichkeit bisher vergeblich. Im Gegenteil: Zur Aussage von Sigrid Sternebeck, sie habe mit der Schleyer-Entführung nichts zu tun, sondern zu dieser Zeit im Ausland für die Gruppe andere Aufgaben wahrgenommen, erklärte die Bundesanwaltschaft bündig am 7. November 1990: Dies „widerspricht nach gegenwärtigem Erkenntnisstand dem von anderen RAF-Mitgliedern bekundeten Selbstverständnis der RAF“. Der Haftbefehl gegen Sternebeck wegen Schleyer gilt weiter.

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