: Eine Chance für Leipzig
■ Das „Theaterprojekt Naundörfchen“ plant ein Kulturzentrum für die Messestadt
Montag abend in Leipzig. Frühjahrsmesse. Ein Hubschrauber kreist über der Stadt, in der gerade 70.000 Menschen gegen ihre Enttäuschung demonstrieren, gegen Helmut Kohl und Arbeitslosigkeit, gegen die realsozialistische Vergangenheit und eine marktwirtschaftliche Zukunft, die im Augenblick nur als dunkle Drohung empfunden wird.
Westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre organisieren den Marsch über den Ring, bevor es andere, politische Extremisten womöglich, tun. Über allem schwebt die schwefeldioxidgetränkte Braunkohleluft, die Tag für Tag dafür sorgt, daß sich die grellbunten Werbeplakate westdeutscher Warenästhetik gegenüber dem allgegenwärtigen Grau wie Herolde einer neuen Zeit präsentieren können. WINGO! prangt es an jeder Ecke, wo 'Bild‘ das Glück im Hier und Jetzt verspricht. Manch einer mag „Win & Go!“ lesen und darauf hoffen, die darniederliegende Stadt demnächst mit einigen zehntausend Mark in Richtung Westen verlassen zu können. Viele bleiben auf Abruf. Die Zahl der Selbstmorde ist dramatisch gestiegen.
Verzweiflung und Resignation, auch Wut und Empörung sind naheliegende Reaktionen auf die aktuelle Misere. Doch selbst mit dem besten Plan und noch mehr Milliarden würde sie nicht über Nacht verschwinden. Für Leipzig — wie für die gesamte Ex-DDR gilt: Nie war so viel Anfang. Aber auch: Nie war so viel Abgrund.
Während sich die Demonstranten noch auf dem ehemaligen Karl- Marx-Platz versammeln, den sie jetzt zum „Platz der Verkohlung“ erklärt haben, hält ein weinroter, brandneuer Kleinbus, ein sechssitziger japanischer Raumgleiter — „Nichts ist unmöglich“ — vor einem heruntergekommenen Gründerzeitbau in der Leipziger City. Exakte Ortsbezeichnung: Naundörfchen, Nummer 32. Die westdeutschen Gäste steigen aus, laufen um das Gebäude herum, klettern über einsturzgefährdete Eisentreppen und schauen durch verschmierte Oberlichter ins verstaubte Innere. Peter Schulze-Sandow, Mitinitiator des „Theaterprojekts Naundörfchen e.V.“ und Fahrer des aufsehenerregenden Wagens, zeigt dem Leiter des Kulturamts der Stadt Frankfurt am Main das Objekt der Begierde: In der dreistöckigen, inzwischen unter Denkmalschutz gestellten Umschaltstation des ehemaligen „Energiekombinats Leipzig“, das heute der „Westsächsischen Energie AG“ (WESAG), letztlich aber dem Essener RWE-Konzern gehört, soll noch in diesem Jahr der Umbau zu einem großen Kulturzentrum mit Theater, Kino, Ateliers, Läden und Cafés beginnen. Voraussetzung: Die Stadt Leipzig setzt bei der Berliner Treuhandzentrale ihren verbrieften Eigentumsanspruch gegen den bisherigen Nutzer durch.
Seit November 1989 kämpft eine Gruppe aus Theaterleuten, Künstlern und Geisteswissenschaftlern für ein „genreübergreifendes Projekt“ mit Hang zum Gesamtkunstwerk. Entsprechend der interdisziplinären Konzeption ist schon der Weg zum Ziel ein fortlaufender und fachübergreifender Lernprozeß in Ämterkunde und Behördenwirrwarr. In der erweiterten Gesprächsrunde beim Kulturdezernenten bewegt sich Cornelia Schwab, Dramaturgin und treibende Kraft des Theaterprojekts, jedoch schon so sicher wie eine erfahrene Dezernatsreferentin, und sie ist auch dann noch hellwach, wenn der völlig überarbeitete Dezernent für Stadtentwicklung über einer Grundbucheintragung für Sekunden einzuschlafen droht. Unermüdlich hat sie kleine und größere Rädchen in Bewegung gesetzt, um der Idee zur Wirklichkeit zu verhelfen. Herausgekommen sind bis jetzt: mehrere ABM-Stellen, ein kleiner Etat und die nachdrückliche Unterstützung der Stadt Leipzig. Auch die „Kulturstiftung“ und die örtliche Presse befürworten das Vorhaben; aber wie das Schloß Kafkas dem Landvermesser K. immer mehr als Phantom erscheinen mußte, so droht das nahezu leerstehende Industriedenkmal mit jedem weiteren Tag ein Stück mehr zur Fata Morgana zu werden.
Hatten die ehemals volkseigenen Stromverteiler im Laufe der ersten Kontakte noch Sympathie und die Bereitschaft geäußert, bei Angebot eines adäquaten Ersatzobjekts das verfallende Gebäude zu räumen, so zeigt die seitdem geübte Hinhaltetaktik, daß man das öffentliche Interesse als Ausdruck einer manifesten Wertsteigerung versteht.
In dieser Situation haben sich die Kulturdezernenten der Partnerstädte Frankfurt und Leipzig, Linda Reisch und Bernd Weinkauf, entschlossen, ein gemeinsames Schreiben an den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf zu richten. Darin bitten sie ihn, seinen Einfluß im Vorstand der Berliner Treuhand zugunsten einer raschen Entscheidung für das Leipziger Kulturprojekt geltend zu machen.
Auch Hilmar Hoffmann, Frankfurts langjähriger Kulturdezernent, will sich für die Sache einsetzen, deren Pendant in der Bankenmetropole längst zum Markenzeichen eines künstlerischen wie kommerziellen Erfolges geworden ist: der „Mousonturm“. Die ehemalige Seifenfabrik ist zur kulturellen Attraktion der In- und Off-Szene für das gesamte Rhein-Main-Gebiet avanciert.
Noch allerdings organisiren die Leipziger Projektmacher Theateraufführungen, Ausstellungen und Performances in der Diaspora vorläufiger Örtlichkeiten, noch finden Gespräche mit interessierten Teilhabern und Sponsoren unter jenem schon traumatischen Eigentumsvorbehalt statt, der zum zentralen Symbol der postsozialistischen Ära geworden ist. Noch jagen Cornelia Schwab & Friends als selbstverwaltete Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft von Termin zu Termin, von Leipzig nach Frankfurt und zurück, noch trägt die Dynamik der Initiative, die verdichtete und beschleunigte Lebenserfahrung über alle Hindernisse hinweg.
Die schlichteste und zugleich wirkungsvollste Brücke könnte ein Mann bauen, der gerade in Leipzig war und die Allianz zwischen Wirtschaft und Kultur durch einen Sponsorenvertrag mit Kurt Masurs Gewandhausorchester besiegelte: Franz Josef Schmitt, Vorstandsvorsitzender des RWE-Konzerns. Der unbürokratische Verzicht aufs „Naundörfchen 32“ wäre ein Signal für den Anfang. Über Sponsorship könnte man sich später verständigen. Reinhard Mohr
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