: „Aber hier sind wir in der Unterwelt“
Die nach Italien geflüchteten AlbanerInnen auf dem Weg in die Gettoisierung/ Flüchtlinge in den Klauen örtlicher Gangsterbanden/ Italienische Medien verbreiten Massenangst durch Schauderzahlen hereindrängender MigrantenInnen ■ Aus Bozen Werner Raith
Dragan, 13, hat noch eine gewisse Mühe, seine jeweiligen Nachnamen zu behalten: eigentlich heißt er Schir — und darauf wäre er eigentlich stolz, denn er hat gehört, daß es einen berühmten Schriftsteller dieses Namens gibt, der um die Jahrhundertwende in einem der sechs Dutzend mit Albaner-Nachfahren besetzten Gemeinden Unteritaliens lebte.
Doch Schir darf er schon seit der Zeit seiner Einschiffung im albanischen Durazzo nicht mehr heißen. Sein Vater, ein hoher Parteifunktionär, fürchtet für die Zeit nach der Wahl die Nacht der langen Messer an ehemaligen Regimedienern, und wollte wenigstens seine drei Kinder retten. Da Dragan also ohne Eltern losfuhr, mußte er sich unter die Obhut einer anderen Familie stellen. Fortan hörte er auf den Namen Doku.
Doch das soll nun auch wieder nicht von Dauer sein: Seit ihn das italienische Vormundschaftsgericht als elternlos ausfindig gemacht hat — wie mehr als tausend andere der gut 22.000 im März gelandeten Flüchtlinge —, muß er sich auf eine Adoption vorbereiten. Sofern seine Eltern nicht seine Rückkehr fordern, wird er dann Walliser oder Bernauer oder auch Magnano heißen.
„Das ist das Ende“
Derzeit kann sich Dragan jedoch noch kaum mit solchen Gedanken befassen, er sucht noch immer nach seinen beiden Brüdern. Einer kam ihm schon beim Herunterspringen von Bord in Brindisi im Gewühl der mehr als achttausend am Kai kampierenden Flüchtlinge abhanden. „Da sind vorige Woche ein paar tausend meiner Landsleute wieder zurückgefahren, vielleicht ist er da dabei“, sagt er. Genaues weiß man nicht, weil neben den offiziell Registrierten auch diesmal wieder zahlreiche Personen heimlich an Bord gelangt sind.
Mit dem anderen war er noch einige Zeit in der ehemaligen Kaserne Restinto nahe Brindisi zusammen. „Dann kamen plötzlich die Carabinieri und haben einen Teil von uns in Autobusse verladen, und ab gings. Mein Bruder saß schlicht und einfach auf dem Klo, darum kam er wohl nicht mit. Die haben da kurzen Prozeß gemacht.“ Nachfragen seitens der Leitung des neuen Lagers „Cesare Battisti“ in Monguelfo im Pustertal, das in einer Carabinieri-Kaserne untergebracht ist, haben jedoch negativen Bescheid erbracht: Gjorgji ist auch in Restinto nicht mehr zu finden. Die Polizisten fürchten, daß er ausgerissen ist — und das, weiß Dragan mittlerweile genau, „bedeutet das Ende“.
Denn mehr als hundert Leute, die über den Einfriedungszaun der Albanerlager entwichen waren, haben die Ordnungshüter bereits fest in den Klauen örtlicher Gangsterbanden oder mafioser Gruppen gefunden. Die zwingen sie entweder als Billigstarbeitskräfte auf die Felder Apuliens oder nutzen sie zu Raubüberfällen. „Die haben“, so der Dominikaner-Pater und Albaner-Seelsorger Don Alberto aus Mesagne bei Brindisi, „offenbar nur darauf gewartet, Verzweifelte zur Auffrischung ihrer zuletzt durch einige Razzien geschwächten Reihen anzuwerben“. Einige seiner neuen Schäfchen sagten bereits rundheraus: „Heimat hatten wir im Realsozialismus auch keine. Aber hier sind wir wirklich in der Unterwelt gelandet.“
Ein Pilotprojekt: Arbeitsgenehmigung
Die Behörden der Provinzen Trient und Bozen wollen nun, mit Genehmigung der römischen Regierung und — selbstverständlich — einer kräftigen Geldspritze aus Brüssel mit den Albanern ein Pilotprojekt erproben. Gleich nach Ostern sollen Bezirke definiert werden, in denen die Zugeflohenen ohne große Formalitäten jede Arbeit aufnehmen können, zu der sie sich imstande fühlen. Daß das Projekt gelingen wird, stößt nur auf wenig Zweifel — schließlich sind in den beiden Provinzen jeweils nicht einmal vierhundert Albaner untergebracht, darunter eine ganze Anzahl Frauen und Kinder, die selbst nicht nach Arbeit suchen. Einer so begrenzten Zahl auch Verdiensthilfe zu geben, scheint nicht sonderlich kompliziert.
Die Frage ist, ob sich ein solches Modell auch auf andere Gebiete übertragen läßt, und was so aus den übrigen 21.000 Flüchtlingen wird, die in Sizilien, in Ligurien und in Piemont, in Friaul und in der Campania untergebracht sind. Gegenden, die aus vielerlei Gründen wohl nicht so schnell Hilfe parat haben. In einige reiche Regionen — wie die Lombardei, Venezien und die Emilia Romagna — haben sich die Behörden, so die Beobachtung von 'il manifesto‘, „sowieso kaum ein paar Dutzend einzuquartieren getraut“, weil dort schon seit langem böse, teilweise zu Gewalttaten und gar Mord ausschreitende Aversionen gegen fremde Zuwanderer herrschen. In anderen Gegenden, wie der Basilicata, wohin ein Großteil der Albaner gebracht wurde, gibt es aber schon für die Enheimischen kaum Arbeit und Brot.
„Marsch auf Europa“
Zusätzlichen Sprengstoff stellen auch noch manche Medien bereit; seit Wochen veröffentlichen speziell die oberitalienischen Magazine und Tageszeitungen immer alarmierendere Berichte über wahre Millionenheere von Zudringlingen, die in aller Welt zum Marsch auf Europa und speziell Itialien bereitstehen sollen. Unter den Katastrophen-Titel „Wer hält die Große Invasion auf?“ rechnete der Mailänder 'Europeo‘ vergangene Woche mehr als hundert Millionen in den Westen und Norden drängende Flüchtlinge aus (60 Millionen aus Schwarzafrika, 20 aus der UdSSR, 10 aus dem Maghreb, drei aus Jugoslawien usw.). Davon stellten die Albaner nur „die kleinere Vorhut“: die Menschenfresser, so die Botschaft, werden wohl bald nachfolgen.
Anzeichen, daß Italien und die gesamte Europäische Gemeinschaft das Problem der Migrationen, wie stark diese auch immer sein möge, durch konkrete und aussichtsreiche Hilfen für die Auswanderungsländer angehen und nicht nur wieder das übliche Flickwerk betreiben werden, gibt es noch kaum. Und so setzen sich eben wieder mal jene an die Spitze, die sowieso das bewährteste Mittel im Dreinhauen sehen. Ganze Regionen fordern nun die voriges Jahr vom Vize-Ministerpräsidenten und Schöpfer des schärfsten Einwanderungsgesetzes der gesamten EG, Martelli, in Aussicht gestellten Einsatz der Armee, um die Grenzen dicht zu machen.
Das allerdings, hat dem Betonkopf mittlerweile sein Kabinettskollege Verteidigungsminister Rognoni klargemacht, sei nun wohl doch ein Hirngespinst: mehr als 7.000 Küstenkilometer könne man wohl kaum mit einer noch so starken Marine schützen. „Und selbst wenn“, fragte ein Flottenadmiral in einer Fernsehsendung spitz nach, „wie sollen wir mit so einem Schiff voller Boat-People denn umgehen? Versenken?“
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