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INTERVIEW»Die Leute sind bereit, Bomben zu schmeißen«

■ Fünfzig Prozent der Arbeitnehmer im Osten sind nach Ansicht des Vorsitzenden des Arbeitslosenverbandes, Klaus Grähn, schon jetzt faktisch arbeitslos/ Grähn: Die Bundesregierung muß den Einigungsvertrag umarbeiten

taz: Aus Sicht der Öffentlichkeit steht die Explosion der Arbeitslosenzahlen in den neuen Ländern noch bevor. Wie Sehen Sie die Situation?

Klaus Grähn: Zur Zeit sind in den neuen Ländern 820.000 Arbeitslose in den Arbeitsämtern registriert. In Wahrheit sind jedoch rund vier Millionen Menschen von Erwerbslosigkeit betroffen — in unterschiedlicher Weise: Die Kurzarbeiter, die Vorruheständler, die Altersübergangsgeld-Empfänger, die rund 600.000 Warteschleifler und schließlich die gemeldeten Arbeitslosen. Es wird innerhalb dieser Gruppen Umschichtungen geben, diese Zahl wird sich jedoch nicht mehr sehr verändern — und deshalb liegt die Betroffenenquote schon jetzt bei etwa 50 Prozent. Zudem sind die Preiserhöhungen durch Lohnerhöhungen noch lange nicht ausgeglichen. Und: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld liegt in den ostdeutschen Ländern unter 600 Mark, die Lebenshaltungskosten sind allein im Februar um 6,8 Prozent gestiegen. Seit Monaten wird für viele Menschen gar nichts gezahlt, weil die Arbeitsämter es nicht berechnen können. Ein Unternehmer z.B. hat alle ostdeutschen Arbeitnehmer mit der Begründung entlassen, sechs Mark Stundenlohn seien ihm zuviel — Polen machen es für vier Mark. Es muß ein Mechanismus gefunden werden, die 24 Milliarden, die in die neuen Länder gesteckt werden sollen, sinnvoll einzusetzen. Wenn man das aber als Lohn für 82.000 ABM-Stellen ausgibt, fließt er zu 90 Prozent wieder in Westwaren ab.

Also keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen?

Für den Einzelnen ist das sicher eine Hilfe. Wenn aber 82.000 Stellen auf diesem zweiten Arbeitsmarkt geschaffen werden, dann ist das kein Konzept für den Aufbau der Wirtschaft. Das ist von der Bundesregierung dilettantisch gedacht. Es gibt hier noch keine Marktwirtschaft, weil keine Konkurrenz existiert. Der Markt regelt noch gar nichts, weil er erst noch geschaffen werden muß: Durch mehr Engagement der Bundesregierung in Bonn, in zentralistischer Manier! Es ist mir schnurzpiepe, auch wenn der Begriff so belegt ist. Die Unternehmen kommen dorthin, wo sie Gewinn machen — und die Prämissen dafür müssen zentral gesetzt werden. Allerdings als Übergangsmaßnahme, bis die Marktwirtschaft funktioniert.

Was müßte also geschehen?

Die ehemalige DDR darf nicht mehr reines Absatzgebiet sein. Es muß mit kategorischen Imperativen investiert werden. Unternehmen, die Gewinn damit machen, daß sie hier ihre Produkte absetzen, müssen gezwungen werden, hier auch prozentual zu investieren. Und: Die Eigentumsfragen müssen geklärt werden, damit die Unternehmen auch bereit sind, sich hier anzusiedeln.

Freie Unternehmen werden sich aber kaum zwingen lassen.

Man muß sich zusammensetzen und sich sehr sachlich darüber verständigen. Man darf die DDRler nicht demoralisieren, sondern muß sie aufbauen und aktivieren.

Es werden doch zahlreiche Umschulungsmaßnahmen angeboten.

Da wird doch keiner motiviert. Wie denn, wenn Studenten Leute umqualifizieren, die auf ihrem Gebiet promoviert und zwanzig Jahre gearbeitet haben. Es gibt genug Leute, die an der DDR verdienen wollen — mit Projekten, mit denen sie aus mangelnder Qualität im Westen gescheitert sind. Kontrollmechanismen sind noch lange nicht aufgebaut — jeder versucht, hier sein Schnäppchen zu machen. Dem Land jedoch hilft das wenig. Die Depressivität nimmt zu und die Radikalisierung wächst. Die Leute sind bereit — das ist hier schon gesagt worden — Bomben zu schmeißen.

Viele gehen jetzt wieder auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Ist das der Weg?

Das Volk hat zur Zeit keinen anderen Weg. Es sind so viele Dinge versprochen worden... Und wenn Kohl zugibt, daß er sich geirrt hat, muß er Konsequenzen ziehen. Er könnte einräumen, daß das ganze Rechtssystem, mit dem die Einigung herbeigeführt wurde, ein Irrtum war. Wie die soziale Absicherung. Also muß man den Einigungsvertrag umarbeiten. Es ist klar: Nach den vielzitierten fünf Jahren wird es noch nicht aufwärts gehen. Die Aufbaukosten liegen insgesamt bei 1-3 Billionen Mark. Bei einer vernünftigen Investitionssumme von jährlich 100 bis 120 Milliarden brauchen wir 10-20 Jahre. Martina Habersetzer

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