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KOMMENTAREBlutige Spekulation

■ Die RAF biedert sich bei den Opfern der Wende an

Der empörte Aufschrei nach jedem neuen Anschlag der RAF ist alle Ehren wert, selbst wenn bei der x-ten Wiederholung der immergleichen Situation niemand mehr über stereotype Reflexe hinauskommt. Was soll man auch sagen, wenn so offensichtlich sinnlos, ausschließlich auf den — fragwürdigen — Symbolgehalt einer Tat spekulierend, gemordet wird? Unangemessen scheint die öffentliche Abscheu nur unter einem einzigen Gesichtspunkt: Unter die Empörung der Politiker mischt sich durchgängig echte oder gespielte Überraschung. Überraschend jedoch ist weder die Tatsache, daß die RAF weiter schießt und bombt, noch der Treuhand-Chef als „Ziel des Angriffs“.

Erstaunlich ist allein die Tatsache, daß die hochgerüsteten Sicherheitsapparate den Tätern ihr blutiges Geschäft so leicht machten. Sie leisteten sich eine eklatante Fehleinschätzung: Detlev Karsten Rohwedder gehörte nicht zum Kreis der am stärksten gefährdeten Persönlichkeiten.

Dabei „paßte“, bei aller Flexibilität der RAF bei der Auswahl ihrer Opfer kaum jemand besser als Rohwedder in ein traditionelles Konzept der RAF. Seit ihren Anfängen hat sie sich mit ihren Aktionen immer wieder an die jeweils virulenten Protestbewegungen anzuhängen versucht. Während des Vietnam-Kriegs galten die Angriffe US-amerikanischen Einrichtungen in der Bundesrepublik, zur Zeit der Massendemonstrationen gegen den Nato- Doppelbeschluß Nato-Einrichtungen und -Militärs. Und schon die Attentate auf den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, Ende November 1989 und den Innenstaatssekretär Hans Neusel im Juli 1990 begründeten die Täter auch mit „der Unterwerfung von Millionen Menschen (in Osteuropa) unter die Prinzipien von Markt, Profit und Warenstruktur“. Dafür standen — zieht man den verquasten Duktus einmal ab — in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen die Treuhand und der Mann an ihrer Spitze. Trotzdem hielt man seinen Schutz offenbar nicht für erforderlich.

Mit den Schüssen auf den Chef der Treuhandanstalt unternimmt die RAF erstmals einen allerdings durchsichtigen Versuch, sich den verzweifelten Menschen in den sozialen Krisengebieten Ostdeutschlands direkt anzubiedern. Daß dieses Unterfangen kläglich scheitern wird, beweisen die spontanen Reaktionen des gestrigen Tages, die im Osten beinahe noch eindeutiger ausfielen als im Westen. Unter dem Eindruck des Attentats zeigte sich fast so etwas wie eine Solidarisierung der Menschen mit der ungeliebten Abwicklungsgesellschaft. Keine Spur von der sprichwörtlichen „klammheimlichen Freude“, die zu Urzeiten der RAF Teile der bundesdeutschen Bevölkerung nach deren Anschlägen gelegentlich überkam. Sollten die Schützen von Düsseldorf tatsächlich darauf spekuliert haben, ist ihnen wirklich nicht mehr zu helfen. Die Reaktionen beweisen nur eins: Die Vorstellung, der realexistierende Kapitalismus sei im Osten inzwischen ebenso verhaßt wie vormals der realexistierende Sozialismus, hat mit der wirklichen Stimmungslage nichts zu tun. Unter dem noch frischen Eindruck der Enthüllungen über die enge RAF-Stasi-Liaison in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ist man dort sogar eher geneigt, den Anschlag versprengten Stasi-Desparados als der RAF zuzuschreiben. Auch dafür gibt es allerdings keinerlei ernstzunehmenden Hinweis.

Politisch wird die RAF mit diesem Attentat so wenig bewegen wie mit allen zuvor. Zu offensichtlich ist auch für die verbittertsten „Opfer“ der Wende in der ehemaligen DDR, daß ihre Situation nicht von Rohwedder oder sonst einer Einzelperson abhängt. Gleichzeitig hat die Gruppe wieder einmal bewiesen, daß sie „militärisch“ nicht zu schlagen ist — individuelle Morde sind selbst unter den Bedingungen eines Polizeistaats nicht zu verhindern. Bei aller Empörung über diese niederschmetternde Erkenntnis — die Situation schreit nach einer politischen Lösung. Den Politikern ist vorzuwerfen, daß sie immer wieder den Zeitpunkt verpassen, eine solche Lösung endlich ernsthaft zu betreiben. Gerd Rosenkranz

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